Psychische Komorbiditäten bei ADHS: Worauf achten?

Eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) setzt sich oft im Erwachsenenalter fort. Psychische Komorbiditäten, insbesondere affektive Störungen, bekommen dann ein stärkeres Gewicht. Das macht es zum einen schwieriger, eine ADHS zu diagnostizieren, wenn diese noch nicht im Kindesalter erkannt wurde. Zum anderen stellt sich die Frage der optimalen Therapie und Therapiereihenfolge. Die Prävalenz der ADHS im Kindesalter liegt global bei rund fünf Prozent, mit gewissen Schwankungen von Land zu Land [1]. In etwa der Hälfte der Fälle persistiert die Störung bis ins Erwachsenenalter [2]. Hier kann dann die Komorbidität von ADHS und affektiven Störungen zu einem relevanten Problem werden. Das betrifft insbesondere das dritte und vierte Lebensjahrzehnt, denn Depression bzw. bipolare Störungen beginnen im Median im Alter von 30 bzw. 33 Jahren [3]. Dass eine im Jugendalter nicht diagnostizierte ADHS bei Menschen mit affektiven Störungen oft unerkannt bleibt, illustriert eine britische Studie, bei der 148 Frauen mit rezidivierender Depression auf ADHS gescreent wurden [4]. ADHS-Symptome zeigten 12,8 Prozent dieser Frauen und die DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)-5-Kriterien für eine ADHS erfüllten 3,4 Prozent. Bei diesen Frauen war auch die depressive Symptomatik ausgeprägter, weswegen die Autoren ein Screening auf ADHS bei Depression anregen. Wie häufig psychische Komorbiditäten bei der ADHS sind, zeigt eine aktuelle Metaanalyse, die insgesamt 32 klinische Studien berücksichtigt [5]: 80 Prozent der Erwachsenen mit ADHS hatten eine psychische Komorbidität. Im Vordergrund stand dabei Substanzmissbrauch, jedoch direkt gefolgt von affektiven Störungen. So lag die Prävalenz depressiver Störungen aller Art bzw. bipolarer Störungen in der untersuchten Population ohne ADHS bei 1,2–12,5 Prozent bzw. 0,2–3,6 Prozent vs. 8,6–55 Prozent bzw. 4,5–35,3 Prozent bei Menschen mit ADHS [5]. Bestätigt werden diese Daten von einer populationsbezogenen Querschnittsanalyse aus Schweden, die bei Erwachsenen mit ADHS vs. die Allgemeinbevölkerung ein neunfach erhöhtes Risiko für psychische Störungen fand, im Vergleich dazu nur ein dezent erhöhtes Risiko für andere Erkrankungen (s. Abb.) [6]. Springer Medizin Verlag GmbH × ADHS und komorbide Depression Generell gilt bei der Komorbidität von psychischen Störungen und ADHS wie in anderen Bereichen der Medizin, dass die jeweiligen Störungen unabhängig voneinander adressiert werden sollten. Die deutsche S3-Leitlinie ADHS betont, dass koexistierende Störungen jeweils leitliniengerecht zu behandeln seien und dass bei der Therapiereihenfolge unter anderem der Schweregrad der jeweiligen Störung berücksichtigt werden müsse [7]. Zur Interaktion zwischen ADHS-Behandlung und Depression gibt es Daten aus einer landesweiten, schwedischen, longitudinalen Kohortenstudie. Sie deuten darauf hin, dass eine medikamentöse ADHS-Therapie mit einem geringeren Risiko einer späteren Depression assoziiert sein könnte [8]. Japanische Daten sprechen zudem dafür, dass medikamentös behandelte ADHS-Betroffene mit Depression eine ähnlich effektive und ähnlich dosierte Antidepressiva-Therapie erhalten können, wie Menschen mit Depression ohne ADHS – obwohl die Depression bei komorbider ADHS im Mittel schwerer verläuft [9]. Besondere Relevanz im Kontext affektiver Störungen hat das Thema Suizidalität. Hier hat eine weitere schwedische Kohortenstudie vor einigen Jahren Daten geliefert, die zeigen, dass eine Stimulanzien-Therapie bei ADHS unabhängig vom Vorliegen einer komorbiden Depression mit einer Reduktion von Suizidversuchen assoziiert ist [10]. ADHS und bipolare Störung Was die Komorbidität von ADHS und bipolarer Störung angeht, zeigt eine aktuelle Metaanalyse, dass beide Störungen stark interagieren. Bipolare Patientinnen und Patienten mit ADHS haben kürzere Stabilitätsperioden und mehr Episoden. Sie werden hinsichtlich der bipolaren Störung früher symptomatisch, sprechen schlechter auf Medikamente an, sind häufiger im Krankenhaus und verüben häufiger Suizidversuche [11]. Mit Blick auf die medikamentöse Therapie bei ADHS mit komorbider bipolarer Störung plädieren Fachleute dafür, die bipolare Störung zuerst zu therapieren (s. Interview). Speziell zur Methylphenidat (MPH)-Therapie (z. B. Medikinet® adult) bei ADHS-Betroffenen mit komorbider bipolarer Störung liefert eine neue dänische Registerstudie interessante Daten [12]. Bei 1.043 Patientinnen und Patienten mit bipolarer Störung und ADHS wurde die MPH-Therapie initiiert. Dies ging nicht mit einer Zunahme manischer Episoden einher, was darauf hindeutet, dass die MPH-Therapie in dieser Konstellation sicher ist. Tatsächlich gingen die manischen Episoden nach Beginn der MPH-Therapie sogar um die Hälfte zurück, und zwar sowohl bei Betroffenen mit als auch ohne Phasenprophylaxe. Die Autoren weisen darauf hin, dass dies ohne Kontrollgruppe nicht überinterpretiert werden sollte. Interview „Genaues Hinsehen ist wichtig“ Substanzkonsum ist die häufigste psychische Komorbidität bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), aber auch affektive Erkrankungen sind nicht selten [5, 6]. Privatdozent Dr. Daniel Schöttle vom Zentrum für seelische Gesundheit am Asklepios Klinikum Harburg, Hamburg, erläutert, worauf im Behandlungsalltag zu achten ist, wenn ADHS und Depression bzw. bipolare Störung gemeinsam auftreten. Dr. Daniel Schöttle, Hamburg Asklepios × Wie wirkt sich die Komorbidität von unipolarer Depression und ADHS klinisch aus? Nach Studienbefunden beginnt die depressive Symptomatik in dieser Konstellation im Mittel früher im Leben der Betroffenen und ist durch zum Beispiel häufigere depressive Episoden und stärkere Alltagseinschränkungen gekennzeichnet. Das Ansprechen auf eine medikamentöse Therapie mit Antidepressiva kann insgesamt schlechter sein. Da das klinische Bild teilweise ähnlich aussieht wie bei einer agitierten Depression, ist diagnostisch ein genaues Hinsehen wichtig. Ein Hinweis auf eine ADHS ist beispielsweise ein früher Zeitpunkt der Erstmanifestation der Symptome. Typischerweise tritt eine ADHS-Symptomatik bereits in der Kindheit auf, deutlich früher als eine affektive Symptomatik. In dieser Konstellation ist ja auch die Sterblichkeit erhöht. Was ist hier im Behandlungsalltag wichtig? Die Mortalität bei einer ADHS nimmt mit der Anzahl der Komorbiditäten insgesamt zu. Wir wissen beispielsweise, dass Erwachsene mit einer ADHS ein erhöhtes Suizidrisiko haben und dass Komorbiditäten wie affektive Störungen und Schizophrenien die Wahrscheinlichkeit für einen Suizid deutlich erhöhen. Im Zeitraum von drei Monaten vor einem Suizid wurde eine deutlich steigende Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen gezeigt [13]. Dies betont die Notwendigkeit, für die Entwicklung von Suizidalität sensibel zu sein und ggf. eine Intensivierung der ambulanten Kontakte vorzusehen – oder einen teilstationären oder stationären Aufenthalt zu erwägen. Wie sollte bei Komorbidität von ADHS und Depression behandelt werden? Bei ausgeprägter Depression sollte die antidepressive Behandlung im Vordergrund stehen. Zur medikamentösen Therapie könnte man überlegen, einen Wirkstoff mit dopaminerger und noradrenerger Wirkung einzusetzen, beispielsweise Bupropion oder auch Venlafaxin. Die kombinierte Gabe von Stimulanzien und antidepressiver Therapie ist nach Zulassung möglich und in Bezug auf die ADHS-Kernsymptomatik effektiv. Wenn man diese Option wählt, ist auf eine vorsichtige Aufdosierung zu achten, und es sind regelmäßige EKG (Elektrokardiografie)- und Blutbild-Kontrollen sowie eine engmaschige Überprüfung des Blutdrucks zu veranlassen. Welche Bedeutung haben verhaltenstherapeutische Ansätze? Viele Menschen mit einer ADHS haben neben der ADHS-Symptomatik zusätzlich negative biografische Erfahrungen und Selbstwertprobleme zu verarbeiten. Komorbiditäten können das Stresserleben deutlich verstärken beziehungsweise entstehen in Zusammenhang mit biografischen Erfahrungen. Diesbezüglich ist ein psychotherapeutischer Ansatz, etwa in Form einer kognitiven Verhaltenstherapie, sinnvoll. Diese Interventionen sind sowohl zur Behandlung bei ADHS als auch zur Behandlung der Komorbidität hilfreich, wie aktuelle Studien zeigen. Wie ist der Zusammenhang von ADHS und bipolarer Störung? Adoleszente und junge Erwachsenen mit einer ADHS weisen verschiedene Risikofaktoren für eine Progression zur bipolaren Störung auf. Eine Studie, die diesen Aspekt untersucht hat, fand in einer Stichprobe junger Erwachsener mit einer ADHS nach elf Jahren Beobachtung bei etwas mehr als fünf Prozent der Betroffenen auch eine Diagnose einer bipolaren Störung [14]. Eine in etwa Verdoppelung des Risikos fand sich bei zum Beispiel bei zuvor bekannter Depression, einer substanzbezogenen Störung oder bei Familienanamnese einer bipolaren Störung. Umgekehrt wurde mit einer aktuellen Metaanalyse gezeigt, dass 17 Prozent der bipolar Erkrankten eine komorbide ADHS haben. Für diese Häufung werden genetische Zusammenhänge vermutet. Letztlich wissen wir das aber nicht so genau. Wie stellt sich die Komorbidität aus ADHS und bipolarer Erkrankung klinisch dar? Bezogen auf die bipolare Störung finden sich kürzere Stabilitätsperioden, häufigere Episoden und eine weniger ausgeprägte psychotische Symptomatik. Die Betroffenen weisen bei Erstauftreten psychiatrischer Symptome ein jüngeres Alter auf, zeigen eine insgesamt früher einsetzende Symptomatik und sprechen etwas weniger gut auf eine Behandlung an. Bezogen auf eine ADHS zeigen sich ein früherer Beginn der Symptome, ausgeprägtere externalisierende Probleme und ADHS-Symptome sowie häufigeres aggressives Verhalten und häufigere rechtliche Probleme. Betroffene werden häufiger stationär aufgenommen, haben mehr Komorbiditäten und mehr Suizidversuche. Was ist beim therapeutischen Vorgehen zu beachten? Die Behandlung der bipolaren Störung steht im Vordergrund; anschließend folgt die Behandlung der ADHS. Ist die bipolare Störung stabil, kann dazu eine Gabe von Stimulanzien erwogen werden. Das Risiko für das Entstehen von Manien erscheint unter diesen Bedingungen nicht oder allenfalls gering erhöht. Literatur Fayyad J et al., Atten Defic Hyperact Disord 2017, 9:47–65 Di Lorenzo R et al., Acta Neuropsychiatr 2021, 33:283–298 Solmi M et al., Mol Psychiatry 2022, 27:281–295 Powell V et al., J Affect Disord 2021, 295:1153-1160 Choi WS et al., PLoS ONE 2022, 17:e0277175 Chen Q et al., PloS One 2018, 13:e0204516 Banaschewski T et al., S3-Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Stand 5/2017 (in Überarbeitung), AWMF-Reg.-Nr. 028-045 Chang Z et al., Biol Psychiatry 2016, 80:916–922 Sakai C et al., Neuropsychiatr Dis Treat 2021, 17:3097–3108 Chang Z et al., Biol Psychiatry 2020, 88:452–458 Bartoli F et al., Aust N Z J Psychiatry 2023, 57:34–48 Jefsen OH et al., J Clin Psychopharmacol 2023, 43:24–34 Lee WC et al., Eur Child Adolescent Psych 2022, doi: 10.1007/s00787-022-02038-y Chu CS et al., Journal Affective Disorders 2021, 295:1072–1078 Impressum „Psychische Komorbiditäten bei ADHS: Worauf achten?“ Literaturarbeit Bericht: Philipp Grätzel von Grätz, Berlin Artikel gedruckt in Ärzte Zeitung Nr. 39, 28. September 2023 Mit freundlicher Unterstützung der Medice Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG, Iserlohn Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Julia Guldan/Teresa Windelen Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. 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