Diskussion
Die beschriebene Konstellation warf in Bezug auf den Umgang mit dem toten Fetus seinerzeit viele Fragen auf. Die Ausgangsfrage war, ob es sich bei einer aus dem Leichnam der Mutter im Rahmen einer Obduktion geborgenen toten Leibesfrucht um einen Leichnam handelt oder nicht. Daran schloss sich an, ob eine eigenständige Leichenschau mit Ausstellung eines Leichenschauscheins notwendig war. Zudem war der Frage nachzugehen, ob die Sektion der Leibesfrucht als eigenständige Leichenöffnung anzusehen war; als gerichtliche Leichenöffnung wäre diese dann möglicherweise separat anzuordnen bzw. bedürfte eines eigenständigen richterlichen Beschlusses. Weiterhin wurde thematisiert, ob die Bergung im Rahmen einer Obduktion, im Speziellen einer gerichtlichen Leichenöffnung, einer Geburt gleichkommen kann.
Es wurde damals entschieden, gemäß den gültigen Fassungen des § 31 PStV und des Hessischen Friedhofs- und Bestattungsgesetzes (FBG HE), aufgrund des Unterschreitens der Gewichtsgrenze von 500 g von einer Fehlgeburt auszugehen, mit allen rechtlichen Konsequenzen: Der Fetus wurde nicht als (eigenständiger) Leichnam behandelt. Seine Obduktion wurde im Sektionsprotokoll seiner Mutter dokumentiert. Es erfolgte keine separate Bestattung.
Am 01.11.2018, nach dem gegenständlichen Fall, trat eine Änderung des § 31 PStV in Kraft (Infobox
1), aus der erhebliche Auswirkungen auf die Differenzierung von Tot- und Fehlgeburt abzuleiten sind [
6]. Zuvor war für eine tote Leibesfrucht, die keine Zeichen des Gelebthabens außerhalb des Mutterleibs aufwies, das einzige Kriterium das Geburtsgewicht: Unter 500 g handelte es sich um eine Fehlgeburt und dagegen ab 500 g um eine Totgeburt [
7,
9]. Mit dem aktuellen § 31 PStV kam als alternatives Kriterium für die Totgeburt das Erreichen der 24. Schwangerschaftswoche (SSW) für eine tote Leibesfrucht, die keine Zeichen des Gelebthabens außerhalb des Mutterleibs aufweist und unter 500 g wiegt, hinzu.
Diese Definition der Totgeburt wurde bislang nur in den „Bestattungsgesetzen“ von Bremen und dem Saarland sowie mit Abweichungen in Hessen (Geburt nach der 24. SSW) übernommen. Dennoch gibt es Argumente für eine bundesweite Anwendung des Alternativkriteriums Erreichen der 24. SSW und eine eigenständig daraus begründbare Leichenschaupflicht nach dem Personenstandsrecht [
6].
Ziele der Gesetzesänderung waren eine europäische Harmonisierung und das Gewährleisten mutterschutzrechtlicher Ansprüche bei Totgeburten ab der 24. SSW mit einem Gewicht unter 500 g [
2]. Im Gesetzeswortlaut ist nicht definiert, ob es sich bei der 24. SSW um jene p. c. (post conceptionem) oder p. m. (post menstruationem) handelt. Um den Schutzanspruch entsprechend bestmöglich sicherzustellen, ist von einer einheitlichen Anwendung der ständigen mutterschutzrechtlichen Rechtsprechung zur Berechnung der Schwangerschaftswochen auszugehen, wonach von dem ärztlich festgestellten mutmaßlichen Tag der Entbindung um 280 Tage zurückgerechnet wird [
1,
8].
Unabhängig von den Differenzen zwischen den Bestattungsgesetzen der Länder und der Personenstandsverordnung lässt sich im Umgang von Standesämtern mit Totgeburten in der Praxis eine erhebliche Heterogenität feststellen [
3].
Seinerzeit, anlässlich des vorgestellten Falls, wurde diskutiert, dass sowohl nach der allgemeinen Erfahrung als auch auf Grundlage publizierter Daten zu (Längen‑)Maßen von Ungeborenen in Abhängigkeit vom Schwangerschaftsalter [
4,
5] davon auszugehen wäre, dass das zum Sektionszeitpunkt fäulnis- und tierfraßbedingt reduzierte Gewicht des Fetus zum Zeitpunkt des Todes deutlich über 500 g gelegen haben müsste: Allein der Verlust des Hirngewebes (Abb.
1) würde erhebliche Anteile der notwendigen Differenz begründen.
Nach dem heutigen Stand wäre auf den dargestellten Fall das Alternativkriterium Erreichen der 24. SSW anwendbar. Ein Mutterpass lag zum Obduktionszeitpunkt nicht vor. Allerdings wäre zu hinterfragen, ob ein Mutterpass ein rechtsverbindliches Dokument darstellt. Abhilfe könnte ein ärztliches Attest oder ein fachärztliches Gutachten des betreuenden Gynäkologen schaffen.
Andererseits wären die bei der Sektion erhobenen weiteren somatischen Maße des Fetus bewertbar. Eine Scheitel-Steiß-Länge von 26 cm wäre der 26. SSW [
4] und eine Scheitel-Fersen-Länge mit 37 cm der 29. SSW zuzuordnen [
5]. Die Länge der rechten Tibia von 4,4 cm wäre nach Fazekas und Kósa [
5] mit einem Alter von 7–7½ Lunarmonaten (29. SSW) in Einklang zu bringen, nach Cunningham et al. [
4] sogar mit 30 Wochen. Es würde sich um eine rechtsmedizinische Expertise anhand der Sektionsbefunde handeln.
Die hypothetische Anwendung der aktuellen Version des § 31 PStV auf den aus dieser Sicht historischen Fall zeigt den Einsatz des Kriteriums Erreichen der 24. SSW für eine tote Leibesfrucht, die keine Zeichen des Gelebthabens außerhalb des Mutterleibs aufweist und unter 500 g wiegt. Dabei wird das Problem deutlich, dass festzulegen ist, wie das Erreichen der 24. SSW valide festzustellen ist. Es stellt sich die Frage, ob der Mutterpass ausreicht oder eine ergänzende fachärztliche Stellungnahme, ggf. basierend auf den Untersuchungen in der Schwangerschaft und mit einem Sicherheitsab- oder -zuschlag, zu fordern ist. Daraus könnte sich eine Spanne ergeben, die ein Schwangerschaftsalter vor und nach Erreichen der 24. SSW miteinbezieht. Sollte dies der Fall sein, müsste geregelt werden, ob es dann (für die Eltern) eine Wahlmöglichkeit (Totgeburt oder Fehlgeburt) gäbe, oder ob (und vielleicht unter welchen Umständen, beispielsweise Frage nach einer eigenständigen gerichtlichen Leichenöffnung des Fetus) von dem Mindest- oder Höchstalter dieses Intervalls ausgegangen werden muss. Um dem Schutzzweck der Gesetzesänderung zu entsprechen, wäre die Anwendung des Höchstalters am ehesten geboten. Dieser Schutzzweck ist im Fall des Todes der Mutter jedoch nicht mehr relevant.
Alternativ wäre zu diskutieren, ob die Feststellung des Schwangerschaftsalters einer toten Leibesfrucht, die keine Zeichen des Gelebthabens außerhalb des Mutterleibs aufweist, nicht primär als Aufgabe der Rechtsmedizin anzusehen ist [
6]. Wenn es sich um die Leiche einer unbekannten Frau handelt oder im Rahmen einer gerichtlichen Leichenöffnung die Schwangerschaft einen Überraschungsbefund darstellt, ist die Rechtsmedizin zwangsläufig involviert.
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