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Open Access 18.04.2024 | Originalien

Der Zusammenhang zwischen betrieblicher Arbeitsschutzorganisation und Gefährdungsbeurteilung

Ergebnisse auf Basis der ESENER-Befragung

verfasst von: Sabine Sommer, Thorsten Lunau, Morten Wahrendorf, David Beck, Giulia La Rocca, Mariann Rigó

Erschienen in: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie

Zusammenfassung

Die vorliegende Studie prüft auf der Basis der Daten der deutschen Teilstichprobe der europäischen Unternehmenserhebung über neue und aufkommende Risiken (ESENER) aus den Jahren 2014 und 2019 den Zusammenhang zwischen der Güte der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation und der Umsetzung einer Gefährdungsbeurteilung. Zur Bestimmung der Güte der Arbeitsschutzorganisation und der Güte der Gefährdungsbeurteilung wurden verschiedene Items der ESENER-Befragung verwendet. Die Analysen wurden in Form logistischer Regressionsmodelle ausgeführt. Die Ergebnisse werden in Form von adjustierten prognostizierten Wahrscheinlichkeiten und durchschnittlichen marginalen Effekten dargestellt. In beiden untersuchten Erhebungswellen der ESENER-Befragung zeigt sich ein ausgeprägter und signifikanter Zusammenhang zwischen der Güte der Arbeitsschutzorganisation und der Umsetzung einer Gefährdungsbeurteilung, auch nach Adjustierung für Größe, Branche und Sektor. Während Betriebe mit einer Arbeitsschutzorganisation hoher Güte mehrheitlich angaben, eine umfassende Gefährdungsbeurteilung durchzuführen (2014: 56 %, 2019: 59 %), waren es für Betriebe mit einer Arbeitsschutzorganisation geringer Güte fast 40 Prozentpunkte weniger (18 % bzw. 23 %). Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass Maßnahmen zur Stärkung der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation zu einer verbesserten Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung beitragen.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Hintergrund

Arbeitgebende sind nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) verpflichtet, für eine geeignete Organisation des Arbeitsschutzes und dessen Einbindung in die betriebliche Aufbau- und Ablauforganisation sowie für eine Beteiligung der Beschäftigten zu sorgen. Ziel ist dabei die Gewährleistung einer effizienten und effektiven Planung und Durchführung der erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes [19]. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber werden dabei insbesondere durch die nach dem Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG) zu bestellenden Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärztinnen und Betriebsärzte beraten. Eine zentrale Aufgabe dieser beiden Akteure ist es, die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung zu unterstützen [4].
Die im Jahr 2008 im ArbSchG verankerte Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie (GDA) unterstreicht mit ihrem übergeordneten Ziel, die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten durch einen präventiven und systemorientierten betrieblichen Arbeitsschutz zu erhalten, zu verbessern und zu fördern, die Bedeutsamkeit der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation und der Gefährdungsbeurteilung als Indikatoren der betrieblichen Präventionspraxis [10]. Die Ermittlung, Bewertung und Kontrolle relevanter Gefährdungen der Beschäftigten und ein systematisches Management des betrieblichen Arbeitsschutzes sind grundlegende Prinzipien zur Verhütung von Unfällen und Krankheiten am Arbeitsplatz [6].
Während in der ersten GDA-Periode 2008–2012 die Förderung der systematischen Wahrnehmung des Arbeitsschutzes als ein Querschnittsthema in den GDA-Arbeitsprogrammen bearbeitet wurde, lag in der zweiten GDA-Periode 2013–2018 mit dem Arbeitsprogramm „Organisation“ ein besonderer Schwerpunkt auf der Beratung und Überwachung zur Arbeitsschutzorganisation. In der aktuell laufenden dritten GDA-Periode soll der Umsetzungsstand der Gefährdungsbeurteilung insbesondere über abgestimmte Betriebsbesichtigungen des Aufsichtspersonals der Länder und der Unfallversicherungsträger verbessert werden. Gegenstand der Betriebsbesichtigungen ist die Überprüfung des Vorhandenseins und des Funktionierens einer den Anforderungen des ArbSchG entsprechenden Arbeitsschutzorganisation [9].
Ergebnisse der im Rahmen der Evaluation der GDA in den Jahren 2009 und 2015 durchgeführten repräsentativen Betriebsbefragungen zeigen, dass nur in knapp der Hälfte aller Betriebe eine Gefährdungsbeurteilung vorlag und auch Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärztinnen und Betriebsärzte als wesentliche Säulen der Arbeitsschutzorganisation nicht flächendeckend bestellt wurden. Dabei erhöhen sich mit steigender Betriebsgröße die Umsetzungsquoten [11, 12, 15]. Sekundärdatenanalysen der GDA-Befragungen haben darüber hinaus gezeigt, dass das Vorhandensein einzelner Elemente der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation, wie z. B. die Inanspruchnahme einer sicherheitstechnischen oder einer betriebsärztlichen Betreuung oder die Schulung von Führungskräften, die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Betriebe Gefährdungsbeurteilungen durchführen [1113, 21].
Der Fokus der vorliegenden Studie liegt auf einer über Einzelelemente hinausausgehenden Betrachtung des Einflusses der Arbeitsschutzorganisation auf die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung. Die aus vorliegenden Untersuchungen gut begründete Hypothese ist, dass Gefährdungsbeurteilungen in Betrieben, in denen wesentliche Elemente der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation vorhanden sind, mit höherer Wahrscheinlichkeit vorliegen als in Betrieben, in denen dies nicht der Fall ist. Mit der vorliegenden Studie soll geschätzt werden, um wieviel Prozent die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Gefährdungsbeurteilung steigt, wenn wesentliche Elemente der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation realisiert sind. Weiterhin wird geschätzt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Gefährdungsbeurteilung ist, wenn wesentliche Elemente der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation ganz oder teilweise fehlen.

Material und Methoden

Stichprobe

Die Studie basiert auf Daten aus der Europäischen Unternehmensbefragung zu neuen und aufkommenden Risiken (ESENER). Diese von der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz (EU-OSHA) in den Jahren 2009, 2014 und 2019 durchgeführte repräsentative Betriebsbefragung gibt u. a. Auskunft über den Umsetzungsstand der Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes und die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung sowohl europaweit als auch in den verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU.
In die Analysen wurden die Daten der deutschen Teilstichprobe aus der ESENER-2-Befragung aus dem Jahr 2014 und der ESENER-3-Befragung aus dem Jahr 2019 einbezogen. Diese beiden Wellen sind sowohl in Bezug auf die Zusammensetzung der Stichprobe als auch in Bezug auf die Elemente des Befragungsinstruments vergleichbar [7, 8]. Die Berücksichtigung beider Wellen erlaubt eine Überprüfung der Robustheit der Ergebnisse im Zeitverlauf.
ESENER‑2 befragte in Deutschland 2261 Betriebe mit fünf oder mehr Beschäftigten; ESENER‑3 befragte in Deutschland 2264 Betriebe mit fünf oder mehr Beschäftigten. Der Anteil der deutschen Stichprobe an der Gesamtstichprobe betrug in beiden ESENER-Wellen rund 5 %.
Die ESENER-Befragungen wurden in 2014 und 2019 jeweils mittels computergestützten Telefoninterviews (CATI) durchgeführt. Befragt wurde in den Betrieben jeweils diejenige Person, die sich am besten mit Sicherheit und Gesundheitsschutz auskennt.

Variablen und Statistik

Ziel der Analysen war es zu prüfen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung einer Gefährdungsbeurteilung in Abhängigkeit von der Güte der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation ausfällt.
Dafür wurden anhand der ESENER-Befragungsitems, die gesetzliche Anforderungen an die Gefährdungsbeurteilung und die betriebliche Arbeitsschutzorganisation zumindest näherungsweise erfassen1, zunächst Indizes gebildet.
Der Index zur Gefährdungsbeurteilung (GB) basiert auf vier Items (Tab. 1). In den deskriptiven Analysen haben wir zunächst die Einzelkomponenten betrachtet. Daher haben wir uns in der Folge bei der Indexbildung für einen additiven Ansatz entschieden, da dieser die gleiche Gewichtung der einzelnen Items gewährleistet. Wir haben einen Composite-Index erstellt, indem wir die vier zugrundeliegenden Items addiert haben. Der resultierende additive Index zur GB kann Werte zwischen 0 und 4 annehmen. Für die weiteren Analysen wird eine 0/1-Indikatorvariable gebildet. Die Indikatorvariable GB wird auf den Wert 1 gesetzt, wenn alle vier Elemente vorliegen. Dies bedeutet, dass die befragten Betriebe (1) bejahen eine Gefährdungsbeurteilung durchzuführen, dabei (2) mindestens zwei Gefährdungsarten aus dem allgemeinen Bereich und mindestens eine Gefährdungsart aus dem Bereich psychosozialer Aspekte berücksichtigen, (3) den Prozess dokumentieren und (4) die Beschäftigten dabei beteiligen. In allen anderen Fällen wird der Wert 0 zugewiesen. Keine Antworten bzw. „weiß nicht“ werden als Missings gewertet und bleiben in den Analysen unberücksichtigt.
Tab. 1
Operationalisierung additiver Index Gefährdungsbeurteilung (GB)
Element
Item ESENER‑3
Item ESENER‑2
Index GB
GB durchgeführt
Q250
Q250
Ja
Gefährdungsarten
Q252
Q252
Mindestens zwei aus Q252_1 bis _4 = GB allgemein + mindestens eins aus Q252_5 oder _6 = GB psychosoziale Aspekte
Dokumentation
Q257
Q255
Ja
Partizipation Beschäftigte
Q258
Q258b
Ja
Die Abkürzungen Q250 usw. beziehen sich jeweils auf das in diesen Erhebungsinstrument verwendete Item-Kürzel
Der Index zur Arbeitsschutzorganisation (AO) umfasst sieben Items (Tab. 2). Analog zum Index Gefährdungsbeurteilung wurde auch hier ein additiver Ansatz verfolgt. Dabei kann der additive Index zur AO Werte zwischen 0 und 7 Punkten annehmen. Die Maximalzahl von 7 Punkten können allerdings nur Betriebe mit 20 oder mehr Beschäftigten erreichen und mit Beschäftigten, die Probleme haben die dort gesprochene Sprache zu verstehen. Grund dafür ist die Filterführung bei zwei Items. Die Frage nach dem Vorhandensein eines Arbeitsschutzausschusses wurde nur Betrieben mit mindestens 20 Beschäftigten gestellt; die Frage zum Angebot fremdsprachlicher Schulungen richtete sich nur an Betriebe, in denen Sprachprobleme auftreten. Für die weiteren Analysen wird eine Indikatorvariable „Güte der Arbeitsschutzorganisation“ auf der Grundlage des additiven Index erstellt. Die Indikatorvariable wird auf den Wert 1 gesetzt (Arbeitsschutzorganisation hoher Güte), wenn die mögliche Maximalpunktzahl erreicht wird (zwischen 5 und 7 je nach Betrieb). Alle anderen Fälle erhalten den Wert 0 (Arbeitsschutzorganisation geringer Güte). Keine Antworten bzw. „weiß nicht“ werden als Missings gewertet und bleiben in den Analysen unberücksichtigt.
Tab. 2
Operationalisierung additiver Index Arbeitsschutzorganisation (AO)
Variable
Item ESENER‑3
Item ESENER‑2
Index AO
Fachkraft für Arbeitssicherheit
Q151_4
Q150_4
Ja
Betriebsarzt
Q151_1
Q150_1
Ja
Arbeitsschutzausschuss
Q350_3
Q166_4
Ja, wenn 20 oder mehr Beschäftigte
Schulung Beschäftigte
Q355_1 bis _6
Q356_1 bis _5
Wenn eines der Items _1 bis _5 ja
Fremdsprachliche Schulung
Q356
Q357
Ja, bei Betrieben mit Beschäftigten, die Probleme haben, die dort gesprochene Sprache zu verstehen
Schulung Führungskräfte
Q163, Q164a, Q164b
Q163, Q164a
Wenn Q163 ja bei 20 oder mehr Beschäftigten
Bei weniger als 20 Beschäftigten, wenn Q164a(b) ja
Kooperation Betriebs‑/Personalrat
Q352
Q350
Ja, wenn Q352/Q350 1 oder 2
Die Abkürzungen Q151_4 usw. beziehen sich jeweils auf das in diesen Erhebungsinstrument verwendete Item-Kürzel
Die Zusammenhänge zwischen den beiden binären Indikatorvariablen (GB und AO) wurden mittels logistischer Regressionen untersucht. Abhängige Variable ist die Umsetzung der GB; unabhängige Variable ist die Güte der AO.
Zur Kontrolle von Unterschieden in der Zusammensetzung der beiden Gruppen von Unternehmen (mit und ohne GB) wurden die Regressionen darüber hinaus nach Betriebsgröße (< 50, ≥ 50), Branche (fünf Gruppen) und Sektor (privater und öffentlicher) adjustiert.
Die Ergebnisse werden in Form von adjustierten vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten (PP) und durchschnittlichen marginalen Effekten („average marginal effects“, AME) dargestellt. Diese sind intuitiver und leichter zu interpretieren als Odds-Ratios (OR) und können zudem über verschiedene Modelle hinweg verglichen werden [18], was mit OR nicht ohne Weiteres möglich ist. Zudem sind AME bei hohen Grundprävalenzen – wie hier der Fall (> 30 %) – aussagekräftiger als OR.
Die adjustierten vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten zeigen also die geschätzte Wahrscheinlichkeit der Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen getrennt für die Gruppen von Betrieben mit hoher und geringer Güte der Arbeitsschutzorganisation (AO = 1 und AO = 0). Die Schätzungen basieren auf logistischen Regressionen und berücksichtigen die Unterschiede in der Zusammensetzung der Betriebsgruppen mit und ohne GB. Die Differenzen der vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten ergeben die AME und können demnach als adjustierte Prozentsatzdifferenz interpretiert werden [22].
Alle Analysen wurden mit Stata 17 durchgeführt.

Ergebnisse

Deskriptive Statistiken

Die Verteilung für die in dieser Stichprobe berücksichtigten Variablen zur Gefährdungsbeurteilung und Arbeitsschutzorganisation zeigen Tab. 3 und 4.
Tab. 3
Deskriptive Statistiken Gefährdungsbeurteilung (GB)
 
2014 (ESENER-2)
2019 (ESENER-3)
  
%(w)
95 % KI
%(w)
95 % KI
GB durchgeführt
Ja
66,2
[63,3–68,9]
67,9
[65,4–70,2]
n(unw)
2.234
2.239
GB + Gefährdungsarten
Ja
37,2
[34,5–40,0]
44,0
[41,6–46,5]
n(unw)
2.234
2.239
GB + Dokumentation
Ja
60,8
[57,8–63,7]
63,0
[60,4–65,4]
n(unw)
2.191
2.210
GB + Partizipation Beschäftigte
Ja
57,9
[54,9–60,7]
59,0
[56,5–61,4]
n(unw)
2.213
2.228
Indikator GB
1
31,6
[29,0–34,3]
36,2
[33,9–38,6]
n(unw)
2.188
2.202
unw ungewichtet, KI Konfidenzintervall, Gesamtsample 2014 = 2261, 2019 = 2264 (tatsächliche Werte können aufgrund von Missings geringer sein)
Tab. 4
Deskriptive Statistiken Arbeitsschutzorganisation (AO)
 
2014 (ESENER-2)
2019 (ESENER-3)
 
%(w)
95 % KI
%(w)
95 % KI
Fachkraft für Arbeitssicherheit
Ja
67,8
[64,9–70,5]
61,9
[59,4–64,4]
n(unw)
2250
2249
Betriebsarzt
Ja
54,2
[51,3–57,1]
56,6
[54,1–59,1]
n(unw)
2255
2259
Arbeitsschutzausschuss
Ja
48,9
[45,2–52,7]
55,4
[51,9–58,7]
n(unw)
1379
1224
Schulung Beschäftigte
Ja
90,9
[89,0–92,4]
90,0
[88,3–91,4]
n(unw)
2261
2264
Fremdsprachliche Schulung
Ja
21,7
[15,5–29,6]
15,9
[11,9–20,8]
n(unw)
292
333
Schulung Führungskräfte
Ja
68,7
[65,9–71,4]
60,0
[57,5–62,4]
n(unw)
2261
2264
Kooperation Betriebs/Personalrat
Ja
58,6
[55,6–61,5]
63,8
[61,3–66,3]
n(unw)
2239
2230
Indikator AO
1
42,6
[39,7–45,5]
42,5
[40,1–44,9]
n(unw)
2180
2188
unw ungewichtet, KI Konfidenzintervall, Gesamtsample 2014 = 2261; 2019 = 2264 (tatsächliche Werte können aufgrund von Missings geringer sein)
Wie Tab. 3 zu entnehmen ist, gaben in 2014 und 2019 rund zwei Drittel der Betriebe an, dass sie Gefährdungsbeurteilungen durchführen. Gut 60 % der Betriebe haben eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt und diese auch dokumentiert. Der Anteil der Betriebe, die eine Gefährdungsbeurteilung berichteten, in die auch die Beschäftigten einbezogen werden, liegt in beiden Jahren etwas unter 60 %. Eine Gefährdungsbeurteilung unter der Berücksichtigung von mindestens zwei Gefährdungsarten aus dem allgemeinen Bereich und mindestens einer Gefährdungsart aus dem Bereich psychosozialer Aspekte wird von weniger als der Hälfte der Betriebe bestätigt.
Die Umsetzung einer Gefährdungsbeurteilung, die alle vier Elemente der Indikatorvariablen GB enthält, trifft für 31,6 % (2014) bzw. 36, 2 % (2019) der Betriebe zu (Zeile „Indikator GB“ in Tab. 3).
Für alle Einzelelemente und die Indikatorvariable GB sind von 2014 zu 2019 Steigerungen zu beobachten.
Wie Tab. 4 zeigt, wird von den Einzelelementen der Arbeitsschutzorganisation sowohl zum Befragungszeitpunkt 2014 als auch 2019 die Unterweisung der Beschäftigten am häufigsten von den Betrieben umgesetzt. Dies wird von rund 90 % der Betriebe angegeben. In gut zwei Dritteln (2014) bzw. rund 60 % (2019) der Betriebe werden Führungskräfte im Bereich Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit geschult. In der gleichen Größenordnung liegt der Anteil der Betriebe, die sicherheitstechnisch betreut werden. Eine betriebsärztliche Betreuung besteht 2014 in rund 54 % und 2019 in knapp 57 % der Betriebe. Gründe, warum Betriebe nicht sicherheitstechnisch oder betriebsärztlich betreut werden, wurden in den ESENER-Befragungen nicht erfasst.
Das Vorhandensein einer Arbeitsschutzorganisation hoher Güte (d. h. Indikatorvariable AO = 1) trifft für 42,6 % (2014) bzw. 42,5 % (2019) der Betriebe zu (Zeile „Indikator AO“ in Tab. 4).
Anders als bei der Gefährdungsbeurteilung ist bei den Elementen der Arbeitsschutzorganisation kein durchgehender Trend von gesteigerten Umsetzungsraten zu beobachten.

Zusammenhang zwischen Güte der Arbeitsschutzorganisation und Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung

Die adjustierten vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten (PP) und AME sind in Tab. 5 und 6 aufgeführt. Diese quantifizieren die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen von Betrieben mit hoher und geringer Güte der AO. Demnach setzen 56,3 % der Betriebe mit hoher AO-Güte in der ESENER-Welle 2014 auch eine GB um (Zeile „AO ja“ in Tab. 5), während von den Betrieben mit niedriger AO-Güte nur 17,9 % eine GB umsetzen (Zeile „AO nein“ in Tab. 5). Dies entspricht einem AME von 38,4 Prozentpunkten. Die Schätzungen auf der Grundlage der Welle von 2019 (Tab. 6) führen zu Ergebnissen in der gleichen Größenordnung: 59,3 % (ohne GB 23,5 %) der Betriebe mit hoher Güte (geringer Güte) der AO führten eine GB durch, und der AME beträgt 35,8 Prozentpunkte. Darüber hinaus zeigen sich leicht höhere Wahrscheinlichkeiten einer Gefährdungsbeurteilung für Betriebe mit > 50 Beschäftigten oder für die Gruppe der Betriebe in „Bergbau – Energieversorgung – Wasserversorgung – Baugewerbe“.
Tab. 5
Adjustierte vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten (PP) und durchschnittliche marginale Effekte (AME) zum Zusammenhang zwischen dem Indikator AO und dem Indikator GB, Welle 2014
 
2014 (ESENER-2)
PP (%)
95 % KI
AME
95 % KI
AO
Nein
17,9
[15,1–20,8]
Ja
56,3
[53,4–59,2]
38,4
[34,1–42,7]
Betriebsgröße
< 50
37,9
[35,0–40,7]
≥ 50
45,5
[42,4–48,6]
7,6
[3,1–12,1]
Branche
Land und Forstwirtschaft, Fischerei – Verarbeitendes Gewerbe
45,8
[41,5–50,1]
Bergbau – Energieversorgung – Wasserversorgung – Baugewerbe
49,7
[43,1–56,2]
3,9
[−3,9–11,6]
Handel – Verkehr – Gastgewerbe – Kunst
42,0
[38,2–45,8]
−3,8
[−9,5–1,8]
IT – Finanzen – Dienstleistungen
34,4
[30,2–38,7]
−11,4
[−17,4–−5,3]
Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung
35,9
[27,5–44,3]
−9,9
[−19,8–−0,1]
Erziehung/Unterricht – Gesundheits- und Sozialwesen
40,9
[36,2–45,6]
−5,0
[−11,6–1,7]
Sektor
Öffentlicher Sektor
43,3
[38,5–48,0]
Privater Sektor
41,0
[38,7–43,2]
−2,3
[−7,9–3,3]
n
2133
Die Schätzungen basieren auf logistischen Regressionen unter Verwendung der ESENER-Erhebung 2014 (deutsche Stichprobe). Abhängige Variable: Indikator GB. Unabhängige Hauptvariable: Indikator AO. Kontrollvariablen: Betriebsgröße, Branche, Sektor
Tab. 6
Adjustierte vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten (PP) und durchschnittliche marginale Effekte (AME) zum Zusammenhang zwischen dem Indikator AO und dem Indikator GB, Welle 2019
 
2019 (ESENER-3)
PP (%)
95 % KI
AME
95 % KI
AO
Nein
23,5
[20,5–26,4]
Ja
59,3
[56,4–62,2]
35,8
[31,4–40,2]
Betriebsgröße
< 50
41,0
[38,4–43,5]
≥ 50
49,3
[45,6–52,9]
8,3
[3,6–13,0]
Branche
Land und Forstwirtschaft, Fischerei – Verarbeitendes Gewerbe
49,0
[43,8–54,3]
Bergbau – Energieversorgung – Wasserversorgung – Baugewerbe
49,0
[42,7–55,3]
−0,1
[−8,2–8,1]
Handel – Verkehr – Gastgewerbe – Kunst
44,7
[40,9–48,5]
−4,3
[−10,8–2,1]
IT – Finanzen – Dienstleistungen
36,1
[32,4–39,8]
−12,9
[−19,3–−6,5]
Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung
51,7
[41,5–61,9]
2,7
[−9,1–14,5]
Erziehung/Unterricht – Gesundheits- und Sozialwesen
45,2
[40,6–49,8]
−3,8
[−10,9–3,3]
Sektor
Öffentlicher Sektor
43,2
[38,6–47,9]
Privater Sektor
44,1
[41,9–46,3]
0,9
[−4,5–6,3]
n
2149
Die Schätzungen basieren auf logistischen Regressionen unter Verwendung der ESENER-Erhebung 2019 (deutsche Stichprobe). Abhängige Variable: Indikator GB. Unabhängige Hauptvariable: Indikator AO. Kontrollvariablen: Betriebsgröße, Branche, Sektor
Zu weiteren Untersuchung der Betriebsgröße wurde die Stichprobe durch Pooling der Daten aus 2014 und 2019 vergrößert und untersucht, ob ein Zusammenhang zwischen AO-Güte und GB nach Betriebsgröße variiert (Tab. 7).
Tab. 7
Zusammenhang zwischen Maßnahmen zur AO und GB nach Betriebsgröße, adjustierte vorhergesagte Wahrscheinlichkeiten (PP) und durchschnittliche marginale Effekte (AME)
  
PP (%)
95 % KI
AME
95 % KI
p‑Wert
Betriebsgröße < 50
AO geringer Güte
18,5
[16,6–20,4]
AO hoher Güte
54,1
[51,1–57,1]
35,7
[32,1–39,2]
0,000
Betriebsgröße ≥ 50
AO geringer Güte
22,2
[16,5–28,0]
AO hoher Güte
64,1
[61,6–66,6]
41,9
[35,7–48,1]
0,000
Zweite Differenz (AME ≥ 50 – AME < 50)
6,2
[−0,9–13,4]
0,089
Gepoolte Stichprobe aus ESENER‑2 und 3. Die Schätzungen basieren auf logistischen Regressionsmodellen mit Interaktionsterms zwischen Betriebsgröße und Indikator AO. Alle Schätzungen sind für Industrie, Sektor und Erhebungsjahr bereinigt
In kleineren (weniger als 50 Beschäftigte) als auch in größeren Betrieben (50 und mehr Beschäftigte) ist das Vorhandensein einer AO hoher Güte mit einer höheren Wahrscheinlichkeit der Umsetzung einer GB verbunden. In kleinen Betrieben beispielsweise ist die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung einer GB 54,1 % bei Betrieben mit einer AO hoher Güte und 18,5 % bei Betrieben mit einer AO geringer Güte. Die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit, eine GB durchzuführen, ist in größeren Betrieben höher, unabhängig davon, ob eine AO hoher Güte vorhanden ist. In größeren Betrieben beträgt die vorhergesagte Wahrscheinlichkeit der Durchführung einer GB 64,1 % bei Betrieben mit einer AO hoher Güte und 22,2 % bei Betrieben mit einer AO geringer Güte. Bei kleineren Betrieben liegen die entsprechenden Prozentsätze bei 54,1 bzw. 18,5. Dementsprechend beträgt der AME von AO hoher bzw. geringer Güte 41,9 Prozentpunkte in größeren Betrieben und 35,7 Prozentpunkte in kleineren Betrieben. Die Ergebnisse deuten nicht auf ausgeprägte Unterschiede in Bezug auf den Zusammenhang zwischen der Qualität der AO und der Durchführung von GB zwischen größeren und kleineren Betrieben hin.

Diskussion

Bedeutung und Einordnung der Ergebnisse

Die deskriptiven Analysen der ESENER-Daten aus 2014 und 2019 zeigen, dass in einem nicht unerheblichen Anteil von Betrieben Gefährdungsbeurteilungen nicht umgesetzt werden und Elemente der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation nicht oder nur teilweise vorhanden sind. Diese Ergebnisse decken sich mit den Befunden der GDA-Betriebsbefragungen [11, 12].
Über die Berechnung der Wahrscheinlichkeitsdifferenz (AME) wird das Potenzial bzw. der Nutzen, den Maßnahmen zur Verbesserung der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation für eine verbreiterte Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung hat, quantifizierbar.
Der Anteil der Betriebe mit Gefährdungsbeurteilung ist 41 % (große Betriebe) bzw. 35 % (kleine Betriebe) höher, wenn in Betrieben eine betriebliche Arbeitsschutzorganisation höherer Güte realisiert ist. Dieser Befund steht im Einklang mit Ergebnissen einer dänischen Studie zur Untersuchung von Unterschieden betrieblicher Arbeitsschutzbemühungen von Betrieben mit zertifizierten Arbeitsschutzmanagementsystemen und Betrieben, die kein solches Managementsystem eingeführt haben [16]. Danach weisen Betriebe mit einem zertifizierten Arbeitsschutzmanagementsystem ein höheres Gesamtniveau sowohl für prozess- als auch für inhaltsbezogene Arbeitsschutzaktivitäten auf. Zertifizierte Arbeitsschutzmanagementsysteme können als eine betriebliche Arbeitsschutzorganisation hoher bzw. höchster Güte, und die Gefährdungsbeurteilung kann als prozessbezogene Arbeitsschutzaktivität verstanden werden. In eine ähnliche Richtung weisen die Ergebnisse der Studie von Dahler-Larsen et al. [3], die einen signifikanten Zusammenhang zwischen der organisatorischen Verankerung von Sicherheit und Gesundheitsschutz und der Umsetzung von Maßnahmen gegen physische und psychosoziale Risiken aufzeigt.
Die Analysen zeigen auch, dass bei Vorliegen einer betrieblichen Arbeitsschutzorganisation mit geringer Güte die Umsetzung einer Gefährdungsbeurteilung nur in rund jedem fünften Betrieb wahrscheinlich ist. Dieser vergleichsweise niedrige Wert deutet darauf hin, dass die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung eng an das Vorhandensein einer den gesetzlichen Anforderungen entsprechenden Arbeitsschutzorganisation gebunden ist.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die hier vorgestellte Studie vorliegende Erkenntnisse zu Defiziten bei der Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen und von Organisationspflichten im betrieblichen Arbeitsschutz bestätigt. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung durch die Güte der Arbeitsschutzorganisation beeinflusst wird. Eine Arbeitsschutzorganisation hoher Güte macht die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung wahrscheinlicher – sowohl in größeren als auch in kleineren Betrieben. Insoweit verweisen die Studienergebnisse einerseits auf eine weiter bestehende Relevanz der seit 2008 mit der GDA verfolgten Zielsetzungen zur systematischen Wahrnehmung von Arbeitsschutz im Betrieb. Zum anderen sprechen die Ergebnisse dafür, dass Maßnahmen zur Stärkung der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation als erfolgversprechender Ansatz gelten können, um die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung zu verbessern. Sie unterstreichen somit die Bedeutung der u. a. im Rahmen der GDA unternommenen Anstrengungen zur Verbesserung der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation.

Stärken und Schwächen der Studie

Die vorliegende Studie baut auf zwei Erhebungswellen der ESENER-Unternehmensbefragung auf und ermöglicht für die jeweiligen Erhebungszeitpunkte als auch im Trend eine Schätzung der Wahrscheinlichkeit der Umsetzung einer Gefährdungsbeurteilung bei Vorhandensein oder Fehlen einer betrieblichen Arbeitsschutzorganisation hoher Güte.
Die Berechnung von adjustierten prognostizierten Wahrscheinlichkeiten und durchschnittlichen marginalen Effekten erlaubt eine Quantifizierung des Nutzens, den Maßnahmen zur Verbesserung der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation für eine verbreitetere Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung haben. Im Vergleich zu häufig verwendeten Darstellungen von Odds-Ratios bieten die Ergebnisse insoweit eine einfache zu interpretierende Grundlage für die Ableitung von Zielen und Maßnahmen in diesem Bereich.
Bei der Interpretation der Analyseergebnisse ist zu berücksichtigen, dass in der ESENER-Befragung nicht alle in Deutschland bestehenden gesetzlichen Anforderungen an die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen und an die betrieblichen Organisationspflichten im Arbeitsschutz enthalten sind. Darüber hinaus sind durch die Dichotomisierung der Indikatorvariablen in der Gruppe der Betriebe mit „AO 0“ und „GB 0“ Betriebe enthalten, die zumindest einzelne Elemente der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation bzw. der Gefährdungsbeurteilung enthalten. Mit den Berechnungen kann eine Aussage darüber getroffen werden, wie groß die Wahrscheinlichkeitsdifferenz der Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen in Betrieben mit einer Arbeitsschutzorganisation hoher Güte im Vergleich zu Betrieben mit einer Arbeitsschutzorganisation geringerer Güte ist. Es kann aber keine Aussage dazu gemacht werden, welche spezifischen Elemente der Arbeitsschutzorganisation eine höhere Umsetzungswahrscheinlichkeit bedingen.
Diese Studie basiert auf Querschnittsdaten, die keine Rückschlüsse zu Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen den hier untersuchten Variablen erlauben. Darüber hinaus lassen sich aus den Analysen zweier Erhebungswellen noch keine langfristigen Trends in Bezug auf den Anteil von Betrieben, die die verschiedenen Maßnahmen umsetzen, untersuchen. Logistische Regressionen zum Zusammenhang zwischen Arbeitsschutzorganisation und Gefährdungsbeurteilung auf Basis der ESENER-Daten aus dem Jahr 2009 weisen qualitativ ähnliche Schätzungen auf wie die aus den Daten der Wellen 2014 und 2019 ermittelten. Das heißt, auch für 2009 deuten die durchschnittlichen marginalen Effekte darauf hin, dass Unternehmen mit einer Arbeitsschutzorganisation höherer Güte mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit auch eine umfassendere Gefährdungsbeurteilung durchführen.
Anzumerken ist auch, dass ESENER unter niedrigen Antwortquoten leidet [7, 8], was zu einer Verzerrung der Auswahl geführt haben könnte. Es muss davon ausgegangen werden, dass Betriebe, die wenig in Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit investieren, seltener an der Umfrage teilnehmen. Insoweit dürften die hier berichteten Ergebnisse die Anteile der Betriebe mit Arbeitsschutzorganisation und Gefährdungsbeurteilung in der Grundgesamtheit der Betriebe sogar eher überschätzen.
Zudem wurden in der ESENER keine Betriebe mit weniger als fünf Beschäftigten befragt. Diese in Deutschland vergleichsweise große Gruppe von Betrieben ist durch eher wenig ausgeprägte Arbeitsschutzstrukturen gekennzeichnet [11, 12], so dass bei einer Betrachtung aller Betriebe mit mindestens einem Beschäftigten die Höhe der Wahrscheinlichkeitsdifferenz anders ausfallen könnte.

Ausblick

Madsen et al. [16] stellten in ihrer Studie zu betrieblichen Arbeitsschutzbemühungen und der Einführung zertifizierter Arbeitsschutzmanagementsysteme auch fest, dass eine kleine Gruppe von zertifizierten Betrieben viele Prozessaktivitäten und geringe inhaltliche Aktivitäten umsetzen. Dies wird als ein Hinweis auf eine Entkopplung zwischen den systematischen Arbeitsschutzprozessen und den spezifischen präventiven Aktivitäten am Arbeitsplatz bewertet. Zu vergleichbaren Ergebnissen, allerdings in umgekehrter Richtung, kommen Untersuchungen zur Umsetzung von Maßnahmen zur Vermeidung psychosozialer Risiken am Arbeitsplatz [1, 2, 14, 17]. Danach treffen Betriebe, in denen keine Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt werden, vielfach gleichwohl Maßnahmen zum Umgang mit psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz. Insoweit sind betriebliche Arbeitsschutzorganisation und Gefährdungsbeurteilung sicherlich wichtige, aber nicht ausreichende Indikatoren der betrieblichen Präventionspraxis.
Elke et al. [5] zeigen auf, dass die betriebliche Präventionspraxis durch eine Vielzahl von Faktoren und deren Zusammenwirken beeinflusst wird. Zu diesen Einflussgrößen gehören neben strukturellen Merkmalen und Arbeitsabläufen auch Handlungsorientierungen, Motive und Einstellungen betrieblicher Akteure. Welche Faktoren sich wie auswirken, ist durch eine große Heterogenität gekennzeichnet.
Ein besseres Verständnis des Zusammenspiels der verschiedenen Einflussgrößen und eine breitere Datenbasis zu betrieblichen Präventionsmaßnahmen kann dazu beitragen, Indikatoren sowie Vorgehensweisen und Instrumente des institutionellen Arbeitsschutzes, z. B. im Rahmen der GDA, weiterzuentwickeln und gezielter an betrieblichen Kontextbedingungen auszurichten.
Künftig sollten daher sowohl Forschung als auch Monitoring sowie Beratungs- und Überwachungsmaßnahmen die betriebliche Arbeitsschutzpraxis in mindestens dreierlei Hinsicht in den Blick nehmen:
1.
Wie ist Sicherheit und Gesundheitsschutz im Betrieb organisiert (Strukturen, Prozesse)?
 
2.
Was wird an konkreten Maßnahmen zu Sicherheit und Gesundheitsschutz umgesetzt?
 
3.
Warum tut der Betrieb das, was er für Sicherheit und Gesundheitsschutz tut (Handlungsmotive, Werte, Kultur)?
 
Ansätze und Erkenntnisse, auf die aufgebaut werden kann, finden sich u. a. in den Forschungsarbeiten von Beck et al. [2] zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis und von Schmitt-Howe und Hammer [20] zu Formen von Präventionskultur in deutschen Betrieben. Die ESENER-Befragung enthält neben den Fragen zu Arbeitsschutzstrukturen und -prozessen auch einige Items zu Maßnahmen im Bereich psychosozialer Risiken. Auch die Erhebungen in den GDA-Arbeitsprogrammen adressieren das „Wie“ und „Was“ des betrieblichen Arbeitsschutzes. Aspekte des „Warum“ bleiben bisher außen vor.
Die in dieser Studie durchgeführten Analysen basieren auf Daten, die in Jahren vor der SARS-CoV-2-Pandemie erhoben wurden. In der Pandemie haben Maßnahmen des Arbeitsschutzes eine besondere Bedeutung erhalten, da diese vielfach Voraussetzung für eine Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs waren. Zu untersuchen wäre, ob und inwieweit sich dies auf die Verbreitung von Gefährdungsbeurteilungen und die Güte der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation ausgewirkt hat. Die für 2024 vorgesehene vierte Welle der ESENER-Befragung wird hierfür eine Datengrundlage bereitstellen.

Fazit für die Praxis

  • Die Studie zeigt, dass die Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen und das Vorhandensein einer betrieblichen Arbeitsschutzorganisation „hoher Güte“ nach wie vor nicht flächendeckend verbreitet ist.
  • Die adjustierten vorhergesagten Wahrscheinlichkeiten (PP) und durchschnittlichen marginalen Effekte (AME) für den Zusammenhang zwischen der Güte der AO und der Umsetzung der GB implizieren, dass Maßnahmen zur Stärkung der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation dazu beitragen können, die Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen zu verbessern; dies gilt sowohl für größere als auch für kleinere Betriebe.
  • Das übergeordnete Ziel der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie, ein präventives und systematisches Management des betrieblichen Arbeitsschutzes zu fördern und zu verbessern, ist weiterhin bedeutsam.
  • Bei der Ausgestaltung zukünftiger Beratungs- und Überwachungsmaßnahmen und der Abstimmung von Kriterien zur Beurteilung der betrieblichen Präventionspraxis sollten neben der betrieblichen Arbeitsschutzorganisation und der Gefährdungsbeurteilung auch weitere Aspekte, z. B. umgesetzte Präventionsmaßnahmen, Berücksichtigung finden.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

S. Sommer, T. Lunau, M. Wahrendorf, D. Beck, G. La Rocca und M. Rigó geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Fußnoten
1
Aufgrund des europäischen Ansatzes der ESENER-Befragung sind die Formulierungen einzelner Items nicht immer identisch mit Formulierungen deutschen Arbeitsschutzrechts.
 
Literatur
2.
Zurück zum Zitat Beck D, Schuller K, Schulz-Dadaczynski A (2017) Aktive Gefährdungsvermeidung bei psychischer Belastung. Präv Gesundheitsf 12(4):302–310CrossRef Beck D, Schuller K, Schulz-Dadaczynski A (2017) Aktive Gefährdungsvermeidung bei psychischer Belastung. Präv Gesundheitsf 12(4):302–310CrossRef
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Metadaten
Titel
Der Zusammenhang zwischen betrieblicher Arbeitsschutzorganisation und Gefährdungsbeurteilung
Ergebnisse auf Basis der ESENER-Befragung
verfasst von
Sabine Sommer
Thorsten Lunau
Morten Wahrendorf
David Beck
Giulia La Rocca
Mariann Rigó
Publikationsdatum
18.04.2024
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie
Print ISSN: 0944-2502
Elektronische ISSN: 2198-0713
DOI
https://doi.org/10.1007/s40664-024-00535-2

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