Ketamin bei Depressionen: Erste Erfahrungen mit neuem Ansatz

Das Anästhetikum Ketamin und sein Enantiomer Esketamin werden im (teil)stationären Bereich schon off-label gegen schwere Depressionen eingesetzt. Vier Klinikärzte berichteten beim virtuellen DGPPN-Kongress über ihre Erfahrungen. Das Besondere an Ketamin und Esketamin ist die extrem schnelle antidepressive Wirkung; sie setzt innerhalb von 60 Minuten ein, bei intravenöser wie bei intranasaler Applikation. Ein intranasales Esketaminpräparat ist von der EMA bereits 2019 zur Behandlung von Depressionen zugelassen worden, in Deutschland ist es allerdings bisher nicht im Handel. In Fachkliniken werden Ketamin und sein S-Enantiomer aber in individuellen Heilversuchen eingesetzt. Wie aus Vorträgen beim diesjährigen DGPPN-Kongress deutlich wurde, stellt sich die Therapie hier als möglicher Ausweg für Patienten mit schwersten Depressionen dar, die schon fast alles erfolglos probiert haben. Wer wird behandelt? An der Universität Greifswald, wo inzwischen 140 Patienten mit Ketamin i.v. behandelt wurden, wird die Indikation vor allem bei schweren therapieresistenten oder -refraktären Depressionen gestellt, wie PD Deborah Janowitz berichtete. Auch bei 36 Patienten der Universität Freiburg handelt es sich um therapierefraktäre Patienten, die schon mehrere stationäre Aufenthalte und mindestens einen Suizidversuch hinter sich haben. Für sie ist Ketamin oft der letzte Versuch einer medikamentösen Therapie, wie Prof. Claus Normann klarstellte: „Vor einer Elektrokonvulsionstherapie probieren wir es mit Ketamin.“ Als „interessante Off-label-Indikation“ für Ketamin sieht PD Florian Semüller von der Lech-Mangfall-Klinik in Garmisch-Partenkirchen auch die bipolare Depression, wenn sie therapieresistent ist und/oder mit schwerer Suizidalität einhergeht. Die Gefahr eines Switches in die Manie sei möglicherweise geringer als mit anderen Antidepressiva, außerdem verfüge Ketamin über einen „antisuizidalen Kurzzeiteffekt“. Selbst wenn die Depression von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung begleitet wird, kann laut PD Cornelius Schüle von der LMU München mit Ketamin behandelt werden. Die Sorge einer Verstärkung von dissoziativen Symptomen erwies sich zumindest bei einer Patientin mit regelmäßigen psychogenen Anfällen als unbegründet. Empfehlung der Redaktion Affektive Störungen – Themenseite Aktuelle Meldungen, Übersichtsarbeiten und CME-Kurse zu affektiven Störungen, sowie Therapie- und Diagnoseempfehlungen für die Praxis finden Sie auf unserer Themenseite. Zu den weiteren Voraussetzungen für eine Ketamingabe gehören laut Janowitz ein Alter über 18 Jahre, ein unauffälliges EKG, ein stabiler bzw. stabil eingestellter Blutdruck und der Ausschluss einer Schwangerschaft. Die Patienten sollten außerdem nicht an einer Suchterkrankung leiden und möglichst keine Benzodiazepine nehmen. Wie wird behandelt? Die Behandlung mit Ketamin soll laut Janowitz in einem Einzelzimmer erfolgen, wobei auf eine ruhige Umgebung zu achten ist, um eine Reizüberflutung zu vermeiden. Die Anwesenheit eines Anästhesisten ist aufgrund der niedrigen Dosierung nicht erforderlich. Nach der Infusion bzw. intranasalen Applikation erfolgt in Greifswald eine 1:1-Betreuung durch eine Sitzwache, dabei werden für vier Stunden Puls und Blutdruck kontrolliert. Die Greifswalder Patienten wurden ausschließlich i.v. behandelt; in Freiburg wurde oft intranasal begonnen und dann auf i.v. umgestellt. „Meiner Meinung nach ist i.v. besser wirksam und besser steuerbar“, so Normann, von den Patienten werde aber oft die intranasale Behandlung gewünscht. Der Psychiater sieht eine „klare Korrelation zwischen Dosis und antidepressivem Effekt“. Dabei scheint es allerdings ein Plateau zu geben, mit einer maximalen Wirkung auf den BDI (Beck-Depressions-Inventar) bei einer Dosis von 1 mg/kg KG Ketamin i.v. Beim Freiburger Kollektiv wurde damit nach zwei Stunden eine Reduktion des BDI-Summenscores um 17 Punkte und nach 24 Stunden um 8 Punkte erzielt. Normann empfiehlt daher, eine Hochdosis anzustreben, „die Patienten sollen aber bei Bewusstsein bleiben“. Wenn nach zwei bis drei Infusionen keine Response erreicht wird, rät er dazu, den Therapieversuch zu beenden. Bei Ansprechen sei nach zehn Gaben keine weitere Verbesserung zu erwarten; dann könne man aufhören oder eine Erhaltungstherapie mit Ketamin in geringerer Frequenz anschließen. Wie wirksam ist die Behandlung? Die antidepressive Wirkung einer einzelnen Dosis von (Es-)Ketamin hält laut Janowitz ein bis drei Tage lang an, einzelne Patienten hätten aber auch bis zu sechs Wochen über stimmungsaufhellende Effekte berichtet. Durch repetitive Infusionen wird die Wirkdauer verlängert. In Freiburg wurde bei je einem Drittel der Patienten eine Response und eine Remission erzielt. Betrachtete man nur diese Patienten, ging der vor der Ketamininfusion gemessene BDI während zehn zweimal wöchentlichen Behandlungen relativ kontinuierlich zurück, von einem Ausgangswert von über 40 auf ungefähr 23; danach war keine weitere Verbesserung erkennbar. Durch anschließende Ketamingaben in größeren Intervallen konnte der Effekt erhalten werden. Weil Letzteres aber sehr aufwendig ist, plädiert Normann dafür, analog zur EKT, die depressive Episode durch eine Serie von Ketamingaben zu beenden und zur Phasenprophylaxe auf ein anderes Antidepressivum zu wechseln. Welche Nebenwirkungen können auftreten? Das Risiko für unerwünschte Ereignisse, vor allem für Dissoziationen, steigt ebenfalls mit der Dosis von Ketamin, so die Erfahrung von Normann. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehören laut Janowitz Dissoziation, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Dämpfung, Hypästhesie, Angst, Lethargie, Blutdruckerhöhungen und Benommenheit. Zur Prävention von Erbrechen kann vorher Vomex gegeben werden. Für den Bedarfsfall liegen in Greifswald außerdem Nitrendipin und Lorazepam bereit. Bei über 500 Infusionen musste dort aber nur einmal eine Blutdruckkrise behandelt werden. Empfehlung der Redaktion Berichte vom virtuellen DGPPN-Kongress Das Dossier zum Psychiatrie-Kongress In unserem Dossier zum DGPPN-Kongress erwarten Sie u.a. Beiträge zu der Evidenz von Cannabinoiden bei psychiatrischen Erkrankungen. Und sie lesen von ersten Erfahrungen mit Ketamin bei therapieresistenten Depressionen oder wie Kognitionstraining bei affektiven Störungen helfen kann. basierend auf: Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), virtuell, 26.11.– 28.11.2020. Session: "Ketamin zur Depressionsbehandlung in deutschen Kliniken: Erfahrungen, Vorgehen, Grenzen"

Live-Webinar "Urologie und Sexualmedizin in der Praxis"

Springer Medizin

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