Ist es aber so, dass das Leben von Menschen mit Demenz notwendigerweise die Sinnhaftigkeit durch den Prozess der Demenzerkrankung verliert oder besteht die Möglichkeit, dass sich die Sinnhaftigkeit verändert?
Die Sinnhaftigkeit eines Lebens mit (leichter bis mittelschwerer) Demenz
Die Antwort ist, dass auch unter einer Manifestation der Demenzerkrankung ein sinnvolles Leben möglich ist, weil der Demenzerkrankte immer noch Dinge in seinem Leben für wertvoll erachten kann, die subjektiv erfüllend und die rational wertvoll sind. Man könnte allerdings einwenden, dass das nicht möglich ist, da der Demenzerkrankte die Fähigkeit verloren hat, selbstbestimmt etwas – im Sinne eines kritischen Interesses – wertzuschätzen, und nicht mehr fähig ist, etwas, das rational wertvoll ist, zu verfolgen. Dieser Einwand kann allerdings zurückgewiesen werden, denn an Demenz erkrankte Personen können durchaus noch etwas selbstbestimmt wertschätzen, und es gibt auch Beispiele dafür, dass Menschen mit Demenz Projekte verfolgen, für die es gute Gründe gibt, sie wertzuschätzen – wie z. B. die Aktivitäten Richard Taylors als Alzheimer-Aktivist zeigen. Das Verfolgen solcher Projekte bedarf nur der Hilfe. Dieses Angewiesensein auf Hilfe konfligiert dabei nicht, wie man denken könnte, mit dem Gedanken einer autonomen Wertschätzung. Hilfsbedürftigkeit und Autonomie sind miteinander vereinbar. Für diese Einschätzung greife ich auf eine Argumentation von Agnieszka Jaworska (
1999) zurück. Jaworska wendet sich in ihrem Artikel gegen die einflussreiche Position Roland Dworkins in der Debatte um Patientenverfügungen. Die Stoßrichtung der Argumentation Jaworskas geht also in eine etwas andere Richtung, aber man kann die grundlegenden Gedanken für die Überlegungen zum Sinnkontext fruchtbar machen.
Zunächst die Position von Jaworskas Opponenten: Dworkin geht davon aus, dass der Wille einer (noch) kompetenten Person ausschlaggebend dafür ist, wie später mit der kognitiv beeinträchtigten Person mit Demenz umgegangen werden sollte. Warum geht er davon aus? Er denkt, dass die Person, die die Patientenverfügung erlässt, über die Fähigkeit der autonomen Entscheidung verfügt, und dass diese Entscheidung daher zu respektieren ist. Sie verfügt über sogenannte kritische und erlebnisbezogene Interessen, wohingegen die Person mit manifesten Demenzsymptomen nur noch über erlebnisbezogene Interessen verfügt.
7 Die kognitiv beeinträchtigte Person verfügt deshalb nicht mehr über die Fähigkeit zur Autonomie, und aus diesem Grund ist die Entscheidung der kognitiv kompetenten Person autoritativ. Mit den kritischen Interessen bringt die Person zum Ausdruck, wie sie ihr Leben entwerfen möchte, während die erlebnisbezogenen Interessen bloß dem Moment verhaftet sind. Denkt man diese Argumentationslinie weiter, so hieße das – übertragen auf den Kontext der Sinnfrage –, dass nur die noch kompetente Person ein sinnhaftes Leben führen kann, weil nur sie über die Fähigkeit verfügt, kritische Interessen zu haben. Nur sie ist fähig zu entscheiden, in welcher Art und Weise sie ihr Leben zu führen wünscht. Nur sie ist zu dieser Art Selbstbestimmung fähig.
Der Sichtweise Dworkins hält Jaworska allerdings entgegen, dass auch die kognitiv eingeschränkte Person die Fähigkeit zur Wertschätzung von etwas besitzt – und damit auch dazu, kritische Interessen zu haben. Daher kann man auch sie als autonom bezeichnen. Während Dworkin denkt, dass kritische Interessen sich auf das Leben als Ganzes – „a whole life, a past joined to a future“ (Dworkin
1993a, S. 230) – beziehen müssen, meint Jaworska, dass kritische Interessen etwas weniger anspruchsvoll verstanden werden sollten. Dworkin verbindet nämlich zwei Aspekte miteinander, die nicht notwendig miteinander verknüpft sind: eine Überzeugung davon haben zu können, wie man sein Leben führen möchte, und ein Verständnis vom eigenen Leben im Ganzen haben zu können. Jaworska argumentiert dafür, dass kritische Interessen lediglich mit der Fähigkeit der Wertschätzung verbunden sind und dass in diesem Zusammenhang ein Bezug zum Leben als Ganzes nicht notwendig ist.
Für die Annahme, dass in bestimmten Situationen kritische Interessen vor den bloß erlebnisbezogenen Interessen vorrangig zu berücksichtigen sind, benötigt es nämlich üblicherweise keinen Bezug auf das Leben als Ganzes. Jaworska bringt dafür das Beispiel eines Vaters, der dem kritischen Interesse, zum Wohle seiner Kinder zu handeln, gegenüber dem Interesse, selbst optimale Erfahrungen zu machen, den Vorrang gibt, ohne dabei auf sein Leben als Ganzes Bezug zu nehmen (Jaworska
1999, S. 117). Ähnliches spiegelt sich auch z. B. in der medizinischen Praxis im Kontext der informierten Zustimmung von Patienten. Auch dort ist die Beachtung der informierten Zustimmung von Patienten Ausdruck des Respekts vor der Autonomie, ohne dass dabei eine Reflexion auf das Leben als Ganzes gefordert würde. Die kritischen Interessen werden deshalb als so wichtig erachtet, weil sie das repräsentieren, was eine Person für das eigene Leben wertschätzt. Dafür ist es nicht notwendig, dass die Person eine Vorstellung von einem Entwurf ihres Lebens im Ganzen besitzt (vgl. Jaworska
1999, S. 116).
Dass man etwas in seinem Leben wertschätzt (
to value – im Gegensatz dazu, etwas bloß zu wünschen (
to merely desire)), heißt nach Jaworska:
[T]he person thinks she is correct in wanting what she wants; achieving what she wants is tied up with her sense of self-worth; and the importance of achieving what she wants is, for her, independent of her own experience. Nothing here suggests that valuing would require a grasp of the narrative of one’s whole life.
8 (Jaworska
1999, S. 116)
Und gerade letzteres Merkmal ist es, das Demenzerkrankte zu verlieren drohen (a grasp of the narrative of one’s whole life), nicht aber die Fähigkeit, etwas für ihr Leben wertzuschätzen. An Demenz Erkrankte können sich immer noch erfüllt von etwas fühlen und das als Teil ihrer evaluativen Selbstkonzeption befürworten. Patienten, die Jaworska beschreibt, und auch der Alzheimer-Aktivist Richard Taylor können dafür als Beispiele herangezogen werden.
So berichtet Jaworska von Patienten, die an einer Alzheimer-Studie teilgenommen haben. Eine Patientin – Mrs. D. – war bereits fünf Jahre an Alzheimer erkrankt und ihr Zustand entsprach zum Zeitpunkt der Studie dem einer mittelschweren Demenz. Sie war zeitlich und örtlich desorientiert und hatte Schwierigkeiten, neue Erinnerungen zu formen. Man kann daher sagen, dass sie kein Konzept von ihrem Leben als Ganzes mehr besaß. Dennoch verfügte sie über die Fähigkeit, etwas für ihr Leben wertzuschätzen. Sie begründete beispielweise ihre Teilnahme an der Alzheimer-Studie damit, dass sie dadurch anderen Menschen helfen könne. Darüber hinaus bemühte sie sich auch immer mit einer ähnlichen Begründung, bei anderen Patienten eine gute Stimmung zu verbreiten (Jaworska
1999, S. 118). Mrs. D. erfüllt daher nach Jaworska die Kriterien für die Fähigkeit der Wertschätzung, die oben genannt wurden. Mrs. D. denkt, dass es richtig ist, anderen Menschen helfen zu wollen. Ihre Bereitschaft zu helfen steht in Verbindung zu ihrem Selbstwertgefühl und das Objekt ihrer Wertschätzung ist nicht das eigene Erleben von etwas, sondern etwas davon Unabhängiges.
Auch Richard Taylor kann diese Kriterien erfüllen. Er sieht es als sein Projekt an, das Leben mit Alzheimer zu dokumentieren, damit das anderen Alzheimer-Patienten zugutekommt. Er schreibt selbst:
Your writings will not end up in high school literature classes or on poetry books, but they have potentially profound value to all who are living today just like yesterday, and tomorrow just like today. We have the opportunity to offer others the opportunity to learn about themselves based on more than simply their own experience. (Taylor
2015c, S. 187)
Mir scheint Richard Taylor ein paradigmatischer Fall für jemanden zu sein, der ein sinnhaftes Leben führt. Man kann ihn sehr gut in die Reihe derjenigen Personen integrieren, die üblicherweise als typische Beispiele sinnhaften Lebens angeführt werden. Taylor ist subjektiv erfüllt von dem, was er tut, und weiß auch, dass es dafür gute Gründe gibt.
Der Unterschied, den man hier im Gegensatz zu gesunden Personen allerdings machen könnte, wäre der, dass Richard Taylor oder Mrs. D. auf Hilfe angewiesen sind, um sich den Projekten zu widmen, die sie für ihr Leben wertschätzen und die auch in rationaler Weise wertzuschätzen sind. Sie brauchen Hilfe in der Form von Personen, die ihnen ermöglichen, sich zeitlich und örtlich zu orientieren. Richard Taylor benötigt auch technische Unterstützung, um sein Projekt voranzutreiben. Kann man unter diesen Umständen immer noch sagen, dass die Projekte tatsächlich die Projekte dieser Personen sind – Projekte, in denen sie selbst aktiv engagiert sind? Ich denke ja, das kann man, und zwar aus (mindestens) zwei Gründen: Erstens ist kaum jemand imstande, Lebensprojekte ohne Hilfe oder Hilfsmittel voranzutreiben, und zweitens ist es begrifflich nicht in der Bestimmung eines selbstbestimmten Lebens enthalten, dass Hilfsmittel oder Hilfe keine Rolle spielen dürfen.
Es ist klarerweise der Fall, dass die meisten Lebensprojekte, in denen man sich engagiert, bestimmte Hilfsmittel benötigen. Richard Taylor benötigt für sein Projekt nur mehr technisches Equipment als üblich. Allerdings stellt dieses Equipment für Taylor sicher, dass er sich an die Dinge selbst, die er zu verfolgen wünscht, und an die damit verbundenen Informationen erinnert. Ist das nicht etwas anderes, weil Taylors Hilfsmittel seine mentalen Fähigkeiten unterstützen? Das sind in diesem Sinne tatsächlich andere Hilfsmittel, aber sie schließen nicht aus, dass sich Taylor immer noch selbst aktiv engagiert. Man kann das technische Equipment als Teil von erweiterten kognitiven Prozessen Taylors ansehen (vgl. Clark und Chalmers
1998).
Allerdings benötigen Personen mit Demenz bei der Verfolgung dessen, was sie wertschätzen, auch Hilfe durch andere Personen, die ihnen dies überhaupt erst ermöglichen. Wenn die Familie von Richard Taylor die Hilfsmittel etc. nicht bereitstellen und warten würde, dann könnte er das Erleben seiner Demenzerkrankung aus eigener Perspektive nicht dokumentieren. Er kann sich nicht selbst darum kümmern, dass die geeigneten Mittel zur Verfolgung seiner Zwecke vorhanden und zugänglich sind. Erst in der Beziehung zu anderen stehend, ist es der Person mit Demenz möglich, das zu tun oder so zu sein, wie sie es wertschätzt.
Aber auch diese Tatsache spricht nicht dagegen, dass auch Menschen mit Demenz ein sinnhaftes Leben führen können. Dass sie Beistand brauchen, um sich erfüllt zu fühlen und Dinge zu verfolgen, die rational wertvoll sind, ist kein Grund dafür, diesem Leben in einem gewissen Sinne Selbstbestimmtheit oder Sinnhaftigkeit abzusprechen. Auch dies ist ein Aspekt, auf den Jaworska in Bezug auf die Fähigkeit zur Autonomie aufmerksam macht. Mit ihrem Verständnis von Autonomie, das wesentlich mit der Fähigkeit der Wertschätzung (
capacity to value) einhergeht, kann man Personen mit Demenz bis in fortgeschrittene Stadien des Krankheitsverlaufs Autonomie zusprechen. Was sie allerdings nicht mehr vollumfänglich oder auch nur noch rudimentär besitzen, ist die Fähigkeit, entsprechend der Ziele geeignete Mittel zu ergreifen (vgl. Jaworska
1999, S. 126).
Würde man das Konzept der Selbstbestimmtheit streng an die Fähigkeit binden, in vollständig eigenständiger Weise geeignete Mittel zur Erreichung dessen ergreifen zu können, was man anstrebte, so würde kaum noch jemand die Anforderungen an Autonomie erfüllen können. Wer kann schon völlig auf sich gestellt das verfolgen, was er oder sie wertschätzt? Autonomie muss aber auch nicht im Sinne einer völligen Unabhängigkeit von anderen verstanden werden. Menschen sind eingebettet in soziale Strukturen und Beziehungen und zum Teil auch angewiesen auf andere, wenn es darum geht, das eigene Leben zu gestalten. Das ist kompatibel damit, dass sie autonom sind. Selbstbestimmtheit geht nicht zwingend mit völliger Unabhängigkeit einher (vgl. Mackenzie und Stoljar
2000). Im Falle der Personen mit Demenz geht die Abhängigkeit zugegebenermaßen weiter als das bei Personen der Fall ist, die nicht kognitiv beeinträchtigt sind. Die betreuende Person muss nicht nur dabei behilflich sein, das zu erreichen, was jemand für gut befindet, sondern muss auch unter Umständen identifizieren, was der Betreute für gut befindet. Ab einem bestimmten Grad der Erkrankung sind an Demenz Erkrankte abhängige Akteure (
dependent agents), deren Präferenzen, Interessen und Wertsetzungen in Kooperation mit Hilfspersonen verwirklicht werden können und auch sollten (vgl. Francis und Silvers
2007). Zusammenfassend ist also festzuhalten: Wenn die Person mit Demenz selbst rational wertvolle Projekte wertschätzt und die betreuenden Personen sie dabei unterstützen, das zu verfolgen, dann ist auch für Demenzpatienten ein sinnhaftes Leben möglich – ein Leben, für das gilt, dass subjektiv und rational Wertgeschätztes zusammentreffen.
Als Beleg mag auch hier wieder Richard Taylor herangezogen werden, der bis zu einem sehr fortgeschrittenen Stadium seiner Alzheimer-Erkrankung sein Projekt der Hilfe für andere Alzheimer-Patienten vorangetrieben hat und sich bewusst war, dass es dafür gute Gründe gibt:
What we do and learn about ourselves, each other, and life is just as important to share as what William Shakespeare or Emily Dickinson shared. We may not be able to express ourselves in three rhymed lines of five, seven, and five syllables (a haiku), but who, other than Miss Schetzel is counting? Hide under a bushel? No! I’m gonna let it shine. And you should, too! (Taylor
2015c, S. 187f.)
Die Angst vor einem generellen Sinnverlust bei der Diagnosestellung „Demenz“ ist also in diesem Sinn nicht begründet, weil ein sinnhaftes Leben mit Demenz möglich ist. Allerdings kann diese Aussage nicht für alle Stadien der Demenz aufrechterhalten werden.
Leben mit Demenz jenseits von Sinnhaftigkeit
Ist die Demenzerkrankung in einem Stadium befindlich, in dem die kognitiven Fähigkeiten sehr stark eingeschränkt sind und die Fähigkeit verloren ist zu erkennen, was mit guten Gründen wertgeschätzt werden kann, dann ist ein im wolfschen Sinne sinnhaftes Leben nicht mehr möglich. Das mutet zunächst hart an, denn man möchte nicht sagen müssen, dass das Leben von Personen mit schwerster Demenz notwendiger Weise sinnlos wäre. An dieser Stelle muss man sich aber vor Augen führen, dass „Sinnhaftigkeit“ hier in einer ganz bestimmten Weise zu verstehen ist. Jemand, der an einer schweren Form der Demenz erkrankt ist, kann zwar Zufriedenheit oder auch Glück empfinden, aber da für die subjektive Erfüllung ein kognitives Moment des Erkennens notwendig ist, dass das Angestrebte auch rationaler (bzw. objektiver) Weise wertvoll ist, ist Sinnhaftigkeit in diesem Fall verunmöglicht. Das, was subjektiv anziehend ist, und das, was rational wertvoll ist, ist in dem hybriden Ansatz von Wolf miteinander verknüpft. Ist das kognitive Element, das nach Wolf im Phänomen der Erfüllung verortet ist, nicht mehr vorhanden, so können subjektives und objektives Element nicht als miteinander verbunden angesehen werden. Das heißt nun nicht, dass im Leben der Person mit Demenz nicht Individualität verwirklicht werden könnte oder sich keine Zufriedenheit darin finden könnte. Es gilt immer noch, dass die Individualität und die Bedürfnisse zu respektieren sind. Was nicht möglich ist, ist ein in dem anspruchsvollen Sinn von Wolf sinnhaftes Leben. Würde man Erfüllung sparsamer – nur als etwas, das bloß subjektiv gut für jemanden ist – verstehen, dann würde man den Wunsch nach einem sinnvollen Leben im wolfschen Sinn, den viele Menschen haben, nicht einfangen und vielmehr nach etwas anderem fragen (vgl. Wolf
2010b, S. 123).
Obwohl nun Personen mit Demenz vielleicht noch länger die Fähigkeit haben, etwas wertzuschätzen, wird die Fähigkeit zur reflexiven Einschätzung dieser Wertschätzung schon früher beeinträchtigt sein. Für die wolfsche Sinn-Konzeption ist es aber wichtig, dass eine bestimmte Beurteilung aus der Binnenperspektive desjenigen erfolgt, um dessen Leben es geht. Man muss nicht nur selbst etwas wertschätzen können, sondern auch fähig sein zu erkennen, ob man z. B. darauf auch stolz sein kann. Dafür muss derjenige, der etwas in seinem Leben wertschätzt, auch den bestimmten Schritt zurücktreten können, um zu beurteilen, ob das, was er wertschätzt, auch rational (bzw. objektiv) wertvoll ist. In Fällen der schweren Demenz wird das sicherlich nicht mehr der Fall sein.
Wenn aber die kognitiven Kapazitäten so eingeschränkt sind, dass die Person nicht mehr erkennen kann, was rational wertvoll ist, dann ist auch anzunehmen, dass sie diesen Aspekt des Lebens, um den es Wolf in ihrem Ansatz geht, nicht vermissen wird. Diese Person würde die Abwesenheit eines Projekts, das sowohl subjektiv als auch rational wertvoll ist, nicht bedauern. Aus der Sicht der Person mit Demenz würde ihr in diesem Sinne nichts fehlen.
Sollte man Angst vor dem Sinnverlust im Falle einer Demenzerkrankung haben?
Die Angst vor dem Sinnverlust ist keine diffuse Angst, sondern sie ist auf etwas gerichtet. Sie ist intentional auf einen bestimmten Sachverhalt in der Zukunft ausgerichtet. Derjenige, der Angst empfindet, ist in einer bestimmten Art und Weise negativ eingestellt gegenüber dem, was er für bedrohlich hält. Ein Ziel dieses Aufsatzes war es, den Sachverhalt genauer zu fixieren, auf den die Angst gerichtet ist. Dazu wurde das Sinnverständnis Susan Wolfs herangezogen und als möglicher intentionaler Gehalt die Angst davor expliziert, kein Leben oder keine Lebensprojekte leben zu können, die zugleich subjektiv wie auch rational (bzw. objektiv) wertvoll sind.
Obwohl es nun schon fast auf der Hand liegt zu sagen, dass eine solche Angst gerechtfertigt ist, weil doch gezeigt wurde, dass jedenfalls im Endstadium der Erkrankung ein sinnhaftes Leben nicht möglich sein wird, wird ein solch allgemeines Urteil dem Phänomen in seiner Komplexität nicht gerecht. Für die weitere Ausführung ist es deshalb hilfreich, zwischen zwei möglichen Bezugspunkten der Angst zu unterscheiden: Erstens kann der Bezugspunkt sein, dass sich ein Sinn im Leben verändern wird, und zweitens, dass ein Sinn im Leben nicht mehr möglich sein wird.
Für den ersten Fall kann man noch einmal die Lebensgeschichte Richard Taylors illustrativ zu Rate ziehen. An der Person Taylors wurde gezeigt, dass man in seinem Fall sowohl im gesunden als auch im kranken Zustand anhand der wolfschen Kriterien sagen würde, dass sein Leben ein sinnvolles Leben ist. Allerdings hat sich das, was Taylors Leben zu einem sinnvollen Leben macht, verändert. Man kann vermuten, dass er sich vor seiner Erkrankung z. B. von seinem Leben als Psychologieprofessor erfüllt gefühlt hat, nach seiner Erkrankung aber hat sich das geändert. Sein späteres Leben ist das eines Alzheimer-Aktivisten und man kann vermuten, dass ihn auch dies erfüllt. Der Sinn im Leben Taylors hat eine Wandlung erfahren – so, wie sich auch die Persönlichkeit Taylors verändert hat. Es ist gut möglich, dass der gesunde Mensch das Projekt, das Erleben einer Demenzerkrankung zu dokumentieren, nicht wertschätzt, wohingegen er das im erkrankten Zustand tut.
Die Angst bei der Diagnosestellung kann sich also darauf beziehen, dass man dasjenige, was dem Leben im Falle der Demenzerkrankung Sinn geben könnte, nicht akzeptabel findet. Das impliziert, dass man erstens sein zukünftiges Selbst nicht mehr zu dem verpflichten kann, was man zurzeit wertschätzt. Zweitens ist aber bei der Beurteilung der Akzeptabilität zu berücksichtigen, dass sich auch die Persönlichkeit im Laufe der Zeit verändern wird. Man muss in Betracht ziehen, dass es der zukünftigen Person möglich ist, sich von entsprechenden Projekten erfüllt zu fühlen. Die Bewertung der Veränderung beinhaltet eine Beschreibung des zukünftigen Selbst, das etwas in seinem Leben wertschätzt: etwas, das subjektiv und rational (bzw. objektiv) wertvoll ist. Verkomplizierend kommt hinzu, dass es möglich ist, dass die spätere Person mit Demenz sich an ein früheres (kompetentes) Selbst – vermutlich in Teilen – erinnern kann und die Person mit Demenz möglicherweise etwas vermissen wird, das sie früher als kognitiv kompetente Person erfüllt hat.
Ein weiterer Bezugspunkt der Angst könnte sein, dass es der erkrankten Person im Spätstadium der Demenz, aufgrund kognitiver Einbußen, nicht mehr möglich sein wird, ein sinnhaftes Leben zu führen. Hier ist zu beachten, dass man in der Beurteilung der Veränderung seiner selbst berücksichtigt, dass in die Beschreibung seines späteren Selbst eingehen sollte, dass die spätere Person die Verunmöglichung, ein sinnhaftes Leben führen zu können, nicht bedauern wird.
Erst wenn man beide, zugegebenermaßen nicht leicht zu fassenden Elemente berücksichtigt, kann der/die erkrankte Person umfänglich beurteilen, ob man eine Veränderung seiner selbst in Bezug auf die Sinnhaftigkeit des Lebens bedrohlich und damit ablehnend befindet, oder ob man ihr indifferent gegenüberstehen kann oder sie sogar evtl. annehmen kann. Wie man diese Sachlage befindet, das ist allerdings individuell zu entscheiden. Ein Sinn im Leben ist je individuell verschieden, da Sinn in der hybriden Konstruktion Wolfs immer auch an das Subjekt gebunden ist. Für die mögliche Bewältigung der Angst scheint hier wichtig zu sein, dass verschiedene Strategien des Umgangs mit Ängsten als aussichtsreich befunden werden, und die gilt es an die Situation der Erkrankten anzupassen (Bjørkløf et al.
2019).