MS-Therapie: Wann ist es Zeit für hochpotente Mittel?

Viele MS-Kranke benötigen irgendwann hochwirksame Therapien. Einige Expertinnen und Experten orientieren sich dabei an Risikofaktoren, andere eskalieren bei neuer MS-Aktivität, und manche möchten solche Therapien möglichst vielen MS-Erkrankten gleich nach der Diagnose geben. Eines dürfte den meisten Neurologen inzwischen klar sein: Je früher MS-Kranke krankheitsmodifizierende Therapeutika (DMT) bekommen, umso besser ist die Prognose. Auch sollte bei Zeichen einer Krankheitsaktivität möglichst rasch eskaliert werden, hiermit würden viele Ärztinnen und Ärzte allerdings noch zu lange warten und damit irreversible Schäden bei ihren MS-Patienten riskieren, hieß es auf dem Kongress der europäischen MS-Gesellschaft ECTRIMS in Amsterdam. Eine klare Antwort auf die Frage, wann nun genau bei wem hocheffiziente Therapeutika (HET) wie monoklonale Antikörper verabreicht werden sollen, blieben die MS-Experten jedoch schuldig – hier gehen die Meinungen noch deutlich auseinander. Immerhin lieferten sie einige Strategien und Anhaltspunkte zur Orientierung. Ungünstige Prognose spricht für hochwirksame Therapien So verwies Professor Xavier Montalban vom Centre d'Esclerosi Mútiple de Catalunya (Cemcat) in Barcelona auf etliche Studien, nach denen MS-Kranke mit bestimmten Risikofaktoren für eine ungünstige Prognose von weniger potenten oder niedrigdosierten MS-Therapeutika kaum profitierten. In den Fingolimod-Zulassungsstudien FREEDOMS und TRANSFORMS war die Wirksamkeit des DMT bei Betroffenen über 40 Jahren und solchen mit einem EDSS-Basiswert ab 3,5 deutlich schlechter als in der übrigen Studienpopulation und teilweise nicht mehr signifikant besser als mit Placebo. In beiden Phase-3-Studien mit Ozanimod profitierten zudem Männer in der niedrigen Dosierung (0,5 mg/d) nicht stärker als von Interferon beta-1a, mit der höheren Dosis ergab sich jedoch eine signifikante Reduktion der jährlichen Schübe. In Studien mit HET deutete sich in solchen Subgruppen zwar oft ebenfalls eine verminderte Wirksamkeit an, diese sei aber in der Regel noch immer einer Behandlung mit einer weniger potenten DMT überlegen gewesen, so der MS-Experte. Er schloss daraus, dass Ärztinnen und Ärzte beim Therapiebeginn nicht nur auf die MS-Aktivität, sondern auch auf prognostische Faktoren wie Alter, Geschlecht und bestehende Behinderung achten sollten: Bei Männern, älteren Erkrankten und solchen mit deutlichen Behinderungen ließe sich die MS-Progression mit HET deutlich stärker bremsen als mit einer Basistherapie oder intermediär wirksamen DMT. HET sollten daher bei MS-Kranken mit ungünstiger Prognose so früh wie möglich im Medikationsplan stehen, sagte Montalban. Eskalation nach ersten Zeichen neuer MS-Aktivität Für Professorin Dalia Rotstein von der Universität in Toronto, Kanada, gibt es bei Patienten mit günstigen prognostischen Faktoren aber noch immer gute Gründe, mit niedrigpotenten DMT zu beginnen, etwa das gute Sicherheitsprofil, die meist orale Applikation, geringe Zugangshürden und auch der Wunsch vieler Betroffener, erst einmal zu schauen, ob sie mit einer solchen relativ nebenwirkungsarmen Therapie klarkommen. Die Kunst liege nun darin, zu erkennen, wann dies nicht mehr der Fall sei und ein Wechsel auf eine potentere Medikation erfolgen müsse, hierfür gebe es allerdings noch immer keine klare Evidenz oder einheitliche Richtlinien. Letztlich, so Rotstein, sollte es aber das Ziel sein, die Intensität der Medikation an die Intensität der Erkrankung anzupassen. Dafür müsse vor allem im ersten Therapiejahr der Erfolg gründlich überprüft und nach Zeichen einer neuen Krankheitsaktivität geschaut werden, dazu zählten in der Regel neue Schübe, eine EDSS-Progression von einem Punkt oder mehr sowie mehrere neue T2-Läsionen im MRT. Vor allem dann, wenn sowohl neue klinische Symptome und zugleich neue MRT-Läsionen auftreten, sei dies ein klares Signal für eine Eskalation, dagegen müsse nicht jede kleine neue T2-Läsion, die nicht von klinischen Symptomen begleitet sei, in eine Eskalation münden, erläuterte Rotstein. Als neues Tool zum Monitoring bezeichnete die Neurologin die Bestimmung von Leichtkettenneurofilament (NFL) im Serum. Ein Test alle drei bis vier Monate, adjustiert für Alter, Gewicht und Begleiterkrankungen, könne recht zuverlässig das Wiederaufflammen der Erkrankung ankündigen. Erhöhte NFL-Werte sollten dann eine gründliche klinische und radiologische Untersuchung nach sich ziehen. Ergäben sich dabei ebenfalls Hinweise auf eine MS-Aktivität, wäre auch dies ein klares Signal für eine Eskalation. Empfehlung der Redaktion Kongressdossier Highlights vom ECTRIMS-Kongress 2022 Im Dossier finden Sie unsere Highlights und Berichte vom 38. Kongress des European Committee for Treatment and Research in MS (ECTRIMS): Wann ist die beste Zeit für eine hochaktive Therapie? Welche Entwicklungen gibt es rund um Biomarker zur Früherkennung und zum Monitoring? Neue Daten gibt es außerdem zu bewährten Medikamenten. Hit hard and early Vieles davon können sich Ärztinnen und Ärzte sparen, wenn sie gleich zu Beginn auf HET setzen, so Professor Gavin Giovannoni von der Barts and The London School of Medicine and Dentistry. Seiner Ansicht nach ist das Risiko für eine MS-Progression und Endorganschäden zu hoch, um erst mit niedrig potenten Mitteln zu beginnen. So würden mit Basistherapeutika nur etwa 20% der Behandelten für längere Zeit stabil bleiben, mit intermediär wirksamen DMT etwa 40% und mit HET immerhin 80%. Bislang lasse sich aber nicht klar vorhersagen, welche MS-Kranken auf niedrig und intermediär potente DMT ansprechen, die Therapie damit gleiche einem Würfelspiel, bei dem die Chancen zu verlieren deutlich höher seien als die zu gewinnen. Verlieren bedeute in diesem Fall, dass das ZNS irreparablen Schaden nehme. Giovannoni verwies dazu etwa auf Registerdaten aus Italien. Danach hatten vor dem DMT-Zeitalter etwa 80% der MS-Kranken im Alter von 65 Jahren einen EDSS-Wert von 6 oder mehr, mit den Basistherapeutika schrumpfte der Anteil auf etwa 60%, mit den HET komme man wohl in den Bereich von 20%, wenn man sich die bisherigen Verlaufskurven anschaue. Allerdings gibt es die HET noch nicht lange genug für definitive Aussagen. Vergleichende Analysen würden jedoch zeigen, dass von HET vor allem diejenigen langfristig profitieren, die sie früh bekommen. Bei einer späten Eskalation komme es auch unter HET noch zu einer gewissen EDSS-Progression. Die Unterschiede bei den Therapiestrategien machen sich inzwischen auch auf der Ebene einzelner Länder bemerkbar. Der Neurologe nannte Vergleiche zwischen Dänemark, wo zwischen 2013 und 2016 nur etwa 8% zu Beginn HET erhielten und Schweden mit einem HET-Anteil von über 30%. In Schweden wurde im Laufe von vier Jahren zu 29% seltener eine Behinderungsprogression festgestellt als in Dänemark [1]. Inzwischen betrage der HET-Anteil beim Therapiebeginn in Schweden schon 70%. „Wenn ich MS hätte, wollte ich in Schweden leben“, so Giovannoni. Allerdings hätten immer noch viele Patienten Bedenken gegen HET, wenn sie auf den Beipackzettel mit den Nebenwirkungen schauen. Ihnen müssten Neurologinnen und Neurologen die langfristige Prognose bei einer unzureichenden MS-Therapie verdeutlichen, so Rotstein. Dass Risiko, dass die Lebensqualität durch eine zunehmende Behinderung leide, sei deutlich höher als das Risiko einer Nebenwirkung, die bei einem von 1000 Patienten auftrete. Solche Diskussionen seien dringend nötig, würden aber noch immer zu selten geführt. Quelle: Congress of the European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS), Amsterdam 26–28.10.2022. Symposium Hot Topic 1: High efficacy therapies.

Live-Webinar "Urologie und Sexualmedizin in der Praxis"

Springer Medizin

MS-Therapie: Wann ist es Zeit für hochpotente Mittel?

Weiterführende Themen

Passend zum Thema

Services in der MS-Therapie für Neurolog*innen und Betroffene