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Erschienen in: Rechtsmedizin 3/2023

Open Access 31.01.2023 | Leichenschau | Originalien

Rechtsmedizinische Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau

Eine retrospektive Analyse aus dem Institut für Rechtsmedizin Gießen (2005–2014)

verfasst von: B. Haberer, Prof. Dr. Dr. R. Dettmeyer, C. G. Birngruber

Erschienen in: Rechtsmedizin | Ausgabe 3/2023

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Zusammenfassung

Hintergrund

Die Leichenfundortuntersuchung mit rechtsmedizinischer Leichenschau im Vorfeld der Obduktion kann für deren Planung hilfreich sein. Häufigkeit, Umfang und Art der dokumentierten Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau unterliegen interindividuellen und interinstitutionellen Einflüssen. Eine wissenschaftliche Untersuchung rechtsmedizinischer Leichenfundortuntersuchungen und eine systematische Standardisierung gibt es bisher nicht.

Material und Methoden

Insgesamt 3622 Akten aus dem Archiv des Instituts für Rechtsmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen aus den Jahren 2005–2014 wurden gesichtet. 121 Fälle mit einer Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau durch eine/n Rechtsmediziner/in vor Ort wurden ausgewertet.

Ergebnisse

Die Leichenfundortuntersuchungen, einschließlich Dokumentation der Befunde, wurden während des 10-jährigen Untersuchungszeitraums unterschiedlich gehandhabt. Es zeigte sich eine Zunahme an Leichenfundortuntersuchungen um rund 380 % vom ersten zum letzten Untersuchungsjahr. Der Anteil an Tötungsdelikten bei den Leichenfundortuntersuchungen betrug 46 %. In 63 % aller Fälle fanden sich Dokumentationslücken, die im Verlauf des Untersuchungszeitraums und mit der häufigeren Anfertigung von Leichenfundortuntersuchungsberichten deutlich abnahmen. Bei der Dokumentation von Verletzungsmustern sank der Anteil an unvollständigen Daten von 89 % auf 11 %, bei den Temperaturmessungen am Leichenfundort von 73 % auf 27 %. Exklusiv am Leichenfundort erhebbare dokumentierte Zusatzinformationen fanden sich im Sinne von Blutspurenverteilungsmustern (48 %) und Hinweisen auf mögliche Tatwerkzeuge (57 %).

Schlussfolgerungen

Die rechtsmedizinische Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau wurde zunehmend häufiger durchgeführt. Die Untersuchung des Leichnams vor Ort und die Inaugenscheinnahme der Umgebung liefern Informationen, die über die alleinige autoptische Befunderhebung hinausgehen und eine wertvolle Grundlage für die Einordung von Obduktionsbefunden und für rekonstruktive Überlegungen zu Tatgeschehen darstellen. Um die Qualität der Befunderhebungen am Leichenfundort und die Qualität der zugehörigen Dokumentation zu verbessern, ist eine standardisierte Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau und Dokumentation anzustreben.
Hinweise
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Einleitung

Erstmals wurde im „Pactus legis salicae“ (Tit. 29,9) im 5. Jh. n. Chr. die fachkundige Inaugenscheinnahme eines Leichnams gesetzlich festgelegt [1, 2]. Eine explizite Untersuchung des Leichenfundortes fand hier keine Erwähnung; die Inaugenscheinnahme des Leichnams erfolgte in Anwesenheit des Gerichtes. Diese Regelung fand sich über Jahrhunderte in nachfolgenden Rechtswerken [35].
Die alleinige erste ärztliche Leichenschau wurde in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet, in Hessen im Jahr 1965 durch das Hessische Friedhofs- und Bestattungsgesetz (HFBG, dort §§ 10, 12). Bei unklarer oder nichtnatürlicher Todesart ist eine Mitteilung an die Polizei obligatorisch, die dann im Auftrag der Staatsanwaltschaft ermittelt und ggf. einen Sachverständigen, meist einen rechtsmedizinisch tätigen Arzt bzw. eine rechtmedizinisch tätige Ärztin, mit weiteren Untersuchungen betrauen kann (§§ 159, 160 StPO). Im Falle der Beauftragung einer Leichenfundortuntersuchung findet sich diese/r vor Ort ein und führt, in Abstimmung und Zusammenarbeit mit den vor Ort anwesenden Vertretern von Kriminalpolizei und Spurensicherung, Untersuchungen durch.
Diese Leichenfundortuntersuchung trägt wertvolle Informationen für die Klärung der Todesumstände und der Todeszeitintervallbestimmung bei und ist bereits, neben Einzelberichten zur allgemeineren Nützlichkeit für die Ermittlungen [68], integraler Bestandteil zur Klärung der Todesumstände z. B. auch beim „sudden infant death syndrome“ [6, 911].
Am Leichenfundort gilt es zunächst, die Basisinformationen des Leichenfundortes für die rechtsmedizinische Arbeit festzuhalten. Hierzu gehören Informationen über die Fundortbeschaffenheit, die Verschlussverhältnisse. Spuren von Körperflüssigkeiten oder anderweitige biologische Spuren (z. B. Insekten) sind ebenso wie z. B. Textilfasern zu späterer Analyse und Zuordnung bzw. gemeinsam mit der polizeilichen Spurensicherung ggf. zu dokumentieren und zu sichern [1215]. Darüber hinaus sollten Hinweise auf eine Einnahme von Drogen, Medikamenten oder Genussmitteln und vorhandene medizinische Unterlagen (Arztbriefe, Medikamentenpläne etc.) nicht übersehen werden [13].
Neben der Inaugenscheinnahme und Dokumentation des Leichenfundortes erfolgt eine rechtsmedizinische Untersuchung des Leichnams auf z. B. Verletzungen als Hinweise auf die Todesumstände, die Todesursache und die Todesart [16]. Für die Eingrenzung der Todeszeit sind notwendige Informationen zu erheben (Totenflecke, Totenstarre, Temperaturmessungen, elektrophysiologische Untersuchungen etc.) und ggf. Untersuchungen vor Ort durchzuführen [14, 1722]. Der Bekleidungszustand und etwaige Defekte oder Verunreinigungen der Bekleidung können für die Ermittlung der Todesumstände wichtige Hinweise liefern [23]. Nach der für die rechtsmedizinischen Untersuchungen „unerlässlichen“ Untersuchung und Dokumentation der verfügbaren Informationen am Leichenfundort müssen weitere rechtsmedizinische Untersuchungen, wie z. B. Obduktion, Histologie, Toxikologie, die Erkenntnisse zur Todesursachenermittlung abrunden [24].

Ziele der Studie

Diese retrospektive Studie soll zur Klärung folgender Fragen beitragen:
  • Erweist sich die rechtsmedizinische Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau als geeignetes Mittel zur sorgfältigen und belastbaren Erfassung der vorgefundenen Situation am Leichenfundort?
  • Wie bedeutsam ist der Anteil der bei der rechtsmedizinischen Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau festgestellten Informationen am gesamten rechtsmedizinischen Untersuchungsprozess?
  • Wie könnten eine umfassende standardisierte Durchführung und Dokumentation einer Leichenfundortuntersuchung mit Untersuchung des Leichnams aussehen?

Material und Methoden

Im Rahmen der Studie wurden alle im Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 31.12.2014 erstellten 3622 Obduktionsakten des Instituts für Rechtsmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen ausgewertet. Es fanden sich 121 Fälle, in denen eine rechtsmedizinische Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau vor Ort durchgeführt wurde. Diese Fälle wurden anhand nachfolgender Kriterien ausgewertet:
  • biologische Daten des Leichnams (Alter, Geschlecht, etwaige Vorerkrankungen),
  • gesellschaftliche Daten zum Leichnam (Beschäftigung, Wohnort),
  • geografische Daten zum Leichenfundort (Beschaffenheit der Örtlichkeit, Distanzen zwischen Leichenfundort und Meldeadresse des Verstorbenen sowie Entfernung zum Institut für Rechtsmedizin, Beziehung des Fundortes zur verstorbenen Person),
  • chronographische Daten (Zeitpunkt des Leichenfundes, des Todes, des zum Tode führenden Ereignisses, der Ausstellung des (vorläufigen) Leichenschauscheins, des letzten Kontaktes zu Dritten, der Alarmierung der Rechtsmedizin, des Eintreffens der Rechtsmedizin),
  • medizinische Daten zur Leichenschau (erster Arzt vor Ort, erster Untersucher des Leichnams, sichere Todeszeichen, angenommene Todesursachen und Todesart vor und nach der Obduktion, Angaben im Leichenschauschein),
  • rechtsmedizinische Daten zur Leichenfundortuntersuchung (Verletzungsbeschreibungen vor Ort, Hinweise auf eine Fremdeinwirkung, Untersuchungsmethoden vor Ort, angenommene Leichenliegezeit, bekannte Zeugen, Tatverdächtige, Tatwaffen, Untersuchungserschwernisse vor Ort, Leichenfundortbericht).
Eingeschlossen wurden alle Fälle, in denen erkennbar eine rechtsmedizinische Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau durchgeführt worden war, d. h., mindestens eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt war:
  • Ein schriftlicher Bericht über die Leichenfundortuntersuchung war vorhanden.
  • Im vorläufigen Obduktionsgutachten waren die Ergebnisse der Leichenfundortuntersuchung enthalten.
  • Im Ermittlungsbericht der Polizei, der in der Obduktionsakte enthalten war, fanden sich die mitgeteilten Ergebnisse der rechtsmedizinischen Leichenfundortuntersuchung.

Ergebnisse

Fallzahlen.
Die 121 durchgeführten rechtsmedizinischen Leichenfundortuntersuchungen mit Leichenschau verteilen sich mit durchschnittlich 12 Untersuchungen/Jahr und insgesamt steigender Tendenz auf den Untersuchungszeitraum. Die Anzahl der Leichenfundortuntersuchungen nahm ebenso wie der Anteil der eigenständig formulierten Leichenfundortberichte zu (Abb. 1). Im Fünfjahreszeitraum von 2005 bis 2009 fand sich in 35 % aller Fälle dieses Zeitraums ein separater Leichenfundortbericht; im darauffolgenden Fünfjahreszeitraum (2010–2014) fand sich bei 59 % der Fälle dieses Zeitraums ein separater Bericht.
Die Altersgruppen der untersuchten Verstorbenen wurden in die Kategorien Neugeborene, Säugling, Kleinkind, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren aufgeteilt (Abb. 2). Hierbei zeigte sich ein zahlenmäßiger Schwerpunkt bei der Gruppe der Erwachsenen (≙ Alter zwischen 18 und 65 Jahren) mit 77 % (n=93). In der Gruppe der Neugeborenen (≙ Alter < 7 Tage) fanden sich 0,8 % (n=1), Säuglinge (≙ Alter < 1 Jahr) 0,8 % (n=1), Kleinkinder (≙ Alter zwischen einem und 6 Jahren) 2,5 % (n=3), Kinder (≙ Alter zwischen 7 und 14 Jahren) 0 % (n=0), Jugendliche (≙ Alter zwischen 14 und 18 Jahren) 0,8 % (n=1) und Senioren (≙ Alter > 65 Jahren) 18,1 % (n=22). Bei den 121 vor Ort untersuchten Todesfällen handelte es sich in 43 % der Fälle (n=52) um weibliche Verstorbene, in 57 % der Fälle (n=69) um männliche Verstorbene.
Identifizierung der Verstorbenen.
Im Rahmen der rechtsmedizinischen Untersuchungen konnte die Identität der Verstorbenen in jedem der untersuchten Fälle geklärt werden. Hierfür fanden sich in 16 Fällen (13 %) Angaben zu durchgeführten Identifikationsmaßnahmen. In 8 dieser Fälle wurde die Identifikation mittels des Abgleichs des Zahnprofils oder von Röntgenaufnahmen mit bereits vorhandenen Krankenunterlagen erreicht. In einem Fall wurde ein gesondertes Abstammungsgutachten erstellt. In 3 Fällen wurde die Identifizierung über den Erkennungsdienst durch Fingerabdrücke bzw. aufgegebene Vermisstenmeldungen erreicht, und in 4 Fällen fand sich keine genaue Dokumentation der zum Erfolg führenden Identifikationsmaßnahmen.
Örtlichkeit der Leichenfundorte.
In 61 % der Fälle (n=74) entsprach der Leichenfundort der Wohnung der/des Verstorbenen, in 84 % der Fälle (n=102) befand sich der Leichenfundort in der näheren Umgebung des Lebensumfeldes der/des später Verstorbenen. In 16 % der Fälle (n=19) fand sich kein zwanglos erkennbarer Zusammenhang zwischen der Person des Verstorbenen und dem Leichenfundort (Krankenhaus, Waldstück, auf Arbeitsreise, Hotel, Fahrzeug, Bahnstrecke etc.). In 83 % der Fälle (n=100) war der Leichenfundort ein witterungsgeschützter Ort, in den meisten Fällen Wohnungen, hiervon in 4 % der Fälle (n=5) das Innere eines Fahrzeugs. In 22 % der Fälle (n=27) war der Leichenfundort der Witterung ausgesetzt. In einem Fall (0,8%) wurde ein Leichnam im Erdreich gefunden. Die Entfernungen zwischen dem Institut für Rechtsmedizin in Gießen und dem jeweiligen Leichenfundort betrugen im Mittel 37 km, die minimale Distanz lag bei 0,1 km, die maximale Distanz bei 183 km. Die Entfernung vom Leichenfundort zur Meldeadresse eines Verstorbenen betrug maximal 425 km, die geringste (beim Tod in der eigenen Wohnung) betrug 0 m. Die durchschnittliche Entfernung vom Leichenfundort zur Meldeadresse lag bei 7 km.
Leichenliegezeit.
Die Leichenliegezeiten verteilten sich in 71 % der Fälle auf 24 h oder weniger (n=86), in 21 % auf einen Zeitraum von 2 bis 7 Tagen (n=25), in 5 % auf 8 bis 31 Tage (n=6) und in 2,5 % der Fälle auf mehr als 31 Tage (n=3) sowie in 0,8 % (n = 1) auf mehr als 365 Tage (Abb. 3). Die maximale Leichenliegezeit betrug etwas mehr als ein Jahr, die minimale weniger als 1 h.
Bei der Eingrenzung der Leichenliegezeit fanden sich in 25 Fällen (21 %) in der Dokumentation aufgeführte Besonderheiten, die auf die Leichenliegezeitbestimmung einen Einfluss ausgeübt haben könnten. In 15 Fällen (12 %) wurde eine fortgeschrittene Fäulnis des Leichnams aufgeführt, in 3 Fällen (2 %) wurde eine gesteigerte Konvektion innerhalb des Fundortes durch offene Türen oder Fenster angegeben. In einem Fall (0,8 %) waren eine starke Adipositas des Leichnams und eine damit einhergehende Veränderung der Temperaturkurve angegeben. In 6 Fällen (5 %) wurde der Heizzustand der Räumlichkeit als „warm“ beschrieben, jedoch befand sich der Leichnam in keinem dokumentierten Fall derart nah an einer Wärmequelle, dass dies bei der Leichenliegezeitbestimmung berücksichtigt wurde.
Informationslücken.
In 10 Fällen (8 %) war keine Angabe zum Zeitpunkt des Leichenfundes zu erlangen, und bezüglich des Zeitpunktes der Leichenschau wurden in 16,5 % der Fälle (n=20) keine genauen Angaben vermerkt (Abb. 4).
Rechtsmedizinische Leichenschau.
In 63 % der Fälle (n=76) wurde eine vorläufige Todesbescheinigung durch einen Notarzt ausgestellt. In 3 % (n=4) führte die erste Untersuchung des Leichnams der Hausarzt durch, in 34 % (n=41) war die Rechtsmedizin als Erstes vor Ort. Zur Untersuchungsabfolge ließen sich in 28 Fällen (23 %) Beschreibungen finden. In 12 Fällen (10 %) wurde mit fundortverändernden Maßnahmen auf die Rechtsmediziner/in gewartet. In den verbleibenden 16 Fällen (13 %) waren bereits durchgeführte Maßnahmen polizeilich dokumentiert. In 7 % der Fälle (n=8) war beschrieben, dass die vollständige Leichenschau in Absprache mit den Behörden erst im Institut für Rechtsmedizin durchgeführt wurde. Die Leichenschauscheine enthielten in 100 % der Fälle (n=121) Angaben zu sicheren Todeszeichen. In 18 Fällen (15 %) gingen die erhobenen Verletzungsbefunde am Leichnam vor Ort nicht aus dem Leichenschauschein hervor.
In 55 Fällen (45 %) waren Auffälligkeiten der Kleidung am Leichnam vermerkt, hierzu gehörten fehlende Kleidungsstücke, beschädigte und/oder verschmutzte Kleidung oder ungewöhnliche Kleidungsstücke.
Temperaturmessungen.
Die Temperaturmessungen wurden in den Bezeichnungen „Auflagetemperatur“, „tiefe Rektaltemperatur“ und „Umgebungstemperatur“ durch den/die Rechtsmediziner/in festgehalten. Eine Validierung der Messtechnik war in keinem Fall dokumentiert, in wenigstens 10 Fällen (8 %) wurden die Temperaturmessungen von Kriminaltechnikern durchgeführt. In 5 dieser 10 Fälle waren die Messergebnisse nicht explizit in der rechtsmedizinischen Dokumentation niedergelegt, es wurde lediglich darauf verwiesen. In insgesamt 52 Fällen (43 %) ließen sich aus der Dokumentation keine Informationen zu etwaigen Temperaturmessungen ersehen.
Tötungsdelikte.
Unter den untersuchten Fällen fanden sich 46 % (n=56) Tötungsdelikte. Im Rahmen dieser Tötungsdelikte (n=56) zeigten sich tödliche Schussverletzungen mit 6 % (n=7), tödliche Stichverletzungen mit 15 % (n=18) sowie ein Anteil von todesursächlicher stumpfer Gewalteinwirkung mit 12 % (n=14). Gemischte Gewalteinwirkungen, d. h. Verletzungen sowohl nach stumpfer als auch nach z. B. scharfer Gewalt, fanden sich in 7 Fällen (6 %). Die verbleibenden 10 Fälle lassen sich in 4 Fälle von Ersticken, 4 Fälle von Erwürgen und 2 Fälle von Erdrosseln unterteilen.
Tatwaffen.
Ein Hinweis auf eine Waffe oder der direkte Fund derselben vor Ort war in 69 Fällen dokumentiert (57 %), hierunter erfolgte der Fund einer Waffe vor Ort in 29 Fällen bei Tötungsdelikten (24 %), und eine Beschreibung ohne Waffenfund fand sich in 22 Fällen bei Tötungsdelikten (18 %). Die zum Tode führende Todesursache wurde in 57 Fällen (47 %) als übereinstimmend mit der Einwirkung durch eine beschriebene Tatwaffe angegeben, davon in 40 Fällen bei Tötungsdelikten (33 %).
Erschwernisse und Veränderungen vor Ort.
In 10 % aller Fälle (n=12) wurde eine unzureichende Beleuchtung vor Ort explizit dokumentiert. In 6 Fällen (5 %) war die Wohnsituation laut Dokumentation derart desolat oder beengt, dass dies die Leichenfundortuntersuchung und Untersuchung des Leichnams vor Ort beeinträchtigte. Eine nachträgliche Veränderung von Spuren durch Dritte wurde in 27 Fällen dokumentiert (22 %): In 23 Fällen wurden die Veränderungen vor Ort durch den Rettungsdienst, die Feuerwehr oder die Polizei und einmal durch einen Bereitschaftsarzt vorgenommen, z. B. durch Entkleidung des Körpers, Erste-Hilfe-Maßnahmen, Spurensicherungsmaßnahmen der Hände, Leichenumlagerungen, um die Behandlung zu erleichtern und gewaltsame Öffnung der Wohnung. In einem Fall war die Veränderung durch den Leichenfinder angegeben worden; ein Nachbar stellte einen laufenden Wasserhahn nach Betreten des Fundortes ab, bevor die Behörden eintrafen. In 3 Fällen waren keine Verursacher von Veränderungen in der Dokumentation festgehalten, hier wurden u. a. Spurenverwischungen durch Leichenumlagerungen, Veränderungen des Türöffnungswinkels, fehlende Bekleidung des Leichnams sowie Veränderungen des Raumklimas durch Zerstören einer Fensterscheibe genannt.
Erhobene Befunde im Umfeld des Leichnams.
In 58 Fällen wurde das Blutspurenverteilungsmuster am Leichenfundort dokumentiert (48 %). In 14 Fällen wurden Substanzen mit potenziell toxischer Wirkung vor Ort gefunden (11,6 %). In 4 Fällen (3 %) erfolgte eine Asservierung von Insekten oder biologischen Spuren am Leichenfundort. In einem Fall wurde der Fund eines Abschiedsbriefes in der Nähe des Fundorts angegeben (0,7 %). Die Verschlussverhältnisse der Wohnung wurden in 6 Fällen als auffällig bezeichnet (5 %): In 3 Fällen stand die Terrassentür offen; in 2 Fällen wurde anhand der Spuren auf einen vorgetäuschten Raubmord geschlossen, in einem Fall fanden sich Spuren eines versuchten Einbruchs.
Fotodokumentation.
Eine Fotodokumentation war in 33 Fällen (27 %) vorhanden. Hiervon war in 9 Fällen das Bildmaterial durch die Polizei angefertigt. Die Anzahl an angefertigten Fotodokumentationen stieg leicht innerhalb des untersuchten Zeitraums an. Von 2005 bis 2009 wurden 14 von 33 (42 %) Fotodokumentationen erstellt, während von 2010 bis 2014 insgesamt 19 von 33 (58 %) Fotodokumentationen erstellt wurden.
Todesart und -ursache: Vergleich von Leichenschau und Obduktion.
Die im Rahmen der Leichenschau angegebenen Todesursachen und Todesarten wurden mit dem Ergebnis der nachfolgenden Obduktionen verglichen (n=121). Hier war ein Anteil von Übereinstimmungen bei Todesart und Todesursache zwischen Leichenfundortuntersuchung und Obduktion von 73 % (n=88) zu verzeichnen. In 33 Fällen (27%) wurden Änderungen der Todesursache nach Obduktion dokumentiert, diese sind in Abb. 5 dargestellt. In 70 % (n = 23) dieser 33 Fälle wurde eine nach der Leichenschau als ungeklärt dokumentierte Todesursache durch die rechtsmedizinischen Folgeuntersuchungen geklärt. In 18 % (n = 6) erfolgte eine Änderung der Todesursache bei unverändert gebliebener dokumentierter Todesart. Es kam in 12 % (n = 4) eine Änderung der Todesursache mit Änderung der Todesart vor. In einem Fall (3 %) ließ sich in der Dokumentation nur die Diagnose eines natürlichen Todes durch einen Notarzt finden, die jedoch durch den hinzugerufenen Rechtsmediziner angezweifelt wurde, und nach der Obduktion wurde eine nichtnatürliche Todesart mit todesursächlicher Fremdeinwirkung festgestellt.
Da in diesem Falle keine dokumentierten rechtsmedizinischen Todesumstände nach Leichenfundortuntersuchung in der Dokumentation niedergelegt wurden, wurde die Leichenschaudiagnose herangezogen, auch wenn seitens des Rechtsmediziners keine Fehleinschätzung vorlag.

Diskussion

Die formulierten Ziele dieser Arbeit sind es, erstens, die Eignung der rechtsmedizinischen Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau für die regelhafte Verwendung in rechtsmedizinischen Leichenfällen festzustellen, zweitens, ihren Wert für den rechtsmedizinischen Untersuchungsprozess, wenn möglich, zu ermitteln und, drittens, sollten ggf. Verbesserungen des Umfangs und der Durchführung einer rechtsmedizinischen Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau vorgeschlagen werden.
Die Eignung der Untersuchungsmethode „Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau“ für die regelhafte Anwendung bei ungeklärten Leichenfällen ergibt sich durch die vor Ort erhobenen Informationen und deren Dokumentation.
Die Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau soll sowohl belastbare Informationen direkt vom Leichenfundort liefern, die später vor Gericht verwendet werden können und andernfalls vielleicht verloren gingen als auch eine sehr frühe möglichst genaue Einschätzung zum weiteren Untersuchungsbedarf liefern, damit weitere Untersuchungen direkt eingeleitet werden können oder aber, falls eindeutig ein Fremdverschulden auszuschließen ist, auf weitere Untersuchungen verzichtet werden kann. Die gesammelten Informationen, die im Ergebnisteil zusammengefasst aufgeführt wurden, dienen als erste belastbare rechtsmedizinische Dokumentation vor Gericht. Hierin enthalten sind die Ergebnisse der Leichenschau samt Details wie Verletzungsbeschreibungen, Kleidungszustand, Temperaturmessungen und Leichenliegezeitschätzung. Die Leichenfundortbeschreibung aus rechtsmedizinischer Sicht beschreibt den Leichenfundort samt Details wie Verschlusssituation, umherliegenden Effekten und Spuren von Körperflüssigkeiten.
Im Ergebnisteil wurde bereits vom steigenden Anteil der Leichenfundortuntersuchungsberichte gesprochen, der im zweiten Fünfjahreszeitraum auf 59 % anstieg. Abb. 4 zeigte im vorigen Kapitel, dass die Informationslücken durch die Anfertigung von LFU-Berichten deutlich verringert wurden. Durch eine weitere Standardisierung könnte man hier ggf. weitere Verringerungen der Informationslücken erreichen.
Um das Ganze für einen späteren Zeitpunkt nachvollziehbar zu dokumentieren, erfolgt zusätzlich zum Leichenfundortbericht eine Fotodokumentation. Diese Fotodokumentation spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau, einerseits allein zur Dokumentation als solcher, andererseits um ggf. vergleichende Betrachtungen zu einem späteren Zeitpunkt zu ermöglichen, bis hin zur Verwendung als Beweismittel [3032].
Bezüglich der ersten Frage lässt sich also schlussfolgern, dass eine vollständig durchgeführte Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau geeignet ist, die Gegebenheiten am Leichenfundort belastbar und genau zu dokumentieren und durch Fotodokumentation, Spurengewinnung und LFU-Bericht auch vor Gericht belastbare Beweismittel zur Verfügung stellen kann.
Die zweite Zielfrage befasste sich mit dem Nutzen der Untersuchungsmethode „Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau“ im rechtsmedizinischen Untersuchungsprozess. Dieser ergibt sich zunächst unmittelbar durch diejenigen Informationen, die nur am Leichenfundort festgestellt werden können. Diese reichen von Temperaturmessungen, vorläufigen Leichenliegezeitschätzungen, Blutspurenverteilungsmustern, Identifikationen der Leichen, Fotodokumentationen, Umgebungsuntersuchungen bis hin zu Probenentnahmen noch vor Ort [7]. Zum Abschluss der Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau wird seitens der Rechtsmedizin, wie bei den anderen etablierten Untersuchungsmethoden, nicht nur ein medizinisches Ergebnis formuliert, sondern darüber hinaus eine Empfehlung für das weitere Prozedere.
Ein weiterer Nutzen dieser Untersuchungsmethode kann sein, dass die Informationen schneller oder umfassender zur Verfügung stehen, um Entscheidungen treffen zu können:
Die rasche Identifizierung der Verstorbenen ist am Leichenfundort das erste wichtige Anliegen im Untersuchungsablauf. Die Identifizierung fällt teilweise auch in die Zuständigkeit des polizeilichen Erkennungsdienstes. Sollten die Beamten jedoch nicht erfolgreich sein, kann die rechtsmedizinische Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau eine Identifikation eines Leichnams ermöglichen und so die weiteren Untersuchungen beschleunigen. Schon Berg und Leopold schlugen 1998 die frühzeitige Beteiligung eines Arztes am Identifizierungsprozess des polizeilichen Erkennungsdienstes vor [25].
Es fanden sich in vielen Fällen Identitätsdokumente am Leichenfundort (Führerschein, Personalausweis etc.), die zur Identifizierung führten. Wenn dies nicht der Fall war, gab es oft „Effekte“ (persönliche Gegenstände des Verstorbenen) am Leichenfundort, die einen ersten Identitätsverdacht ermöglichten. Über Tätowierungen, körperliche Besonderheiten (Amputationen, Narben) und Leichenschau durch einen Arzt kann eine erste Bestätigung dieses Identitätsverdachtes bereits möglich sein. Schließlich existieren weitere Möglichkeiten für die Identifizierung im Nachgang zu einer Leichenfundortuntersuchung, z. B. bei der Obduktion ein Abgleich über das Zahnprofil [26, 27] und ein Abgleich mit anderen Gesundheitsunterlagen, die zusammen mit etwaigen Identitätsvermutungen seitens des Erkennungsdienstes zur Identifizierung führten. Dieses Verfahren fand sich am häufigsten in den untersuchten Fällen. Weitere Möglichkeiten sind radiologische und/oder genetische Untersuchungen, aber auch bildtechnisch rekonstruktive Verfahren, die eine Identifikation sicher bestätigen können [28, 29].
Des Weiteren ist hier die rechtsmedizinische Fotodokumentation am Leichenfundort zu erwähnen. Zwar fertigt auch der Erkennungsdienst in der Regel am Leichenfundort eine Fotodokumentation an, jedoch ist diese vom Schwerpunkt her nicht rechtsmedizinisch gelagert. Eckert führte 1980 an, dass nur der Fotograf am Tatort eine höhere Priorität als der Rechtsmediziner haben sollte [7]. Der mitunter anders gelagerte Fokus eines/einer Rechtsmediziner/in auf die medizinisch relevanten Befunde und Zusammenhänge kann hilfreich für die Vollständigkeit und Aussagekraft einer Fotodokumentation sein. Grassberger et al. 2013 beschreiben die spezielle Expertise, die benötigt wird, um die gewünschten Sachverhalte korrekt und nachvollziehbar zu dokumentieren. Unter anderem sollte der Bildausschnitt innerhalb einer Fotoserie von groß und übersichtlich hin zu kleiner und spezifischer verändert werden. Bei Nahaufnahmen sollte zum besseren Verständnis ein Maßstab mit ins Bild aufgenommen werden. Es sollte zudem auf eine einwandfreie Identifizierbarkeit des abgebildeten Leichnams geachtet werden. Die Abfolge der Fotomotive ist organisatorisch vorab festzulegen, da Veränderungen am Leichnam notwendig sein können, und danach ein zuvor gegebener Zustand nicht mehr fotografisch festgehalten werden kann. Hier ist eine exakte Ablaufplanung bezüglich Spurensicherung, Fotodokumentation, ärztlicher Leichenuntersuchung und nochmaliger evtl. paralleler Fotodokumentation notwendig, um spurenschonend zu arbeiten [33].
Die Todeszeitschätzung wird laut Madea und Potente et al. 2021 zwar aufgrund der ungenügenden Genauigkeit selten vor Gericht als Beweismittel zugelassen, jedoch könne sie „eine Zielrichtung“ für weitere Ermittlungen im Fall vorgeben, um diese effektiver zu gestalten. In selten Fällen könnte sie zudem doch noch als Beweismittel den Ausschlag bei wichtigen juristischen Entscheidungen geben und sollte daher so genau wie möglich durch Messungen am Leichenfundort ermittelt werden [8].
Neben dem Nutzen für den rechtsmedizinischen Untersuchungsprozess soll auch die Qualität der Untersuchungsmethode beleuchtet werden:
Diese Qualität lässt sich am ehesten durch einen Vergleich der Ergebnisse mit denen nachfolgender etablierter Untersuchungen wie der Obduktion oder anderen beurteilen, die sich zeitlich an die Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau anschließen. Bei Betrachtung unserer Ergebnisse zeigte sich, dass die Übereinstimmung der vorläufigen Beurteilung vor Ort mit dem Ergebnis nach allen weiteren rechtsmedizinischen Untersuchungen bei 77 % lag und die Rate an Fehleinschätzungen nach Leichenfundortuntersuchung, die juristisch relevant einen nichtnatürlichen Todesfall fehlinterpretiert hätten, bei 0 % lag.
In der wissenschaftlichen Literatur finden sich mehrere Forschungsarbeiten, deren Ergebnisse sich mit den hier ermittelten vergleichen lassen, um einen einordnenden Vergleich der hier ermittelten Daten zu erlangen:
Die Diskrepanz der festgestellten Todesarten zwischen Ergebnis nach Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau und nach allen Folgeuntersuchungen, einschließlich Obduktion, ergab einen Wert von 3,3 %.
Cordes erhielt 2019 einen vergleichbaren Wert von 4 %, indem er 7585 Todesfälle in Bremen untersuchte, bei denen eine ärztliche Todesbescheinigung vorläufig ausgestellt wurde und anschließend eine „qualifizierte“ Leichenschau durchgeführt wurde. Die Einschränkung des Vergleichs liegt hier in der „qualifizierten“ Leichenschau an einem Verbringungsort statt einer rechtsmedizinischen Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau am Fundort [34]. La Lorin de Grandmaison et al. ermittelten diesbezüglich 2008 eine Rate von 5 %, wobei sie 200 Todesfälle aus dem Jahr 2002 untersuchten, in denen eine rechtsmedizinische Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau und anschließender rechtsmedizinischer Obduktion durchgeführt wurde, und deren Ergebnisse verglichen [35]. Asnaes et al. ermittelten 1980 in Ihrer Studie einen Wert von 3 % bei 807 Todesfällen, in denen zunächst am Fundort eine „professionelle“ Untersuchung des Leichnams durchgeführt wurde, und anschließend eine rechtsmedizinische Obduktion. Die Einschränkungen hier betreffen den Leichenfundortuntersucher, der kein Rechtsmediziner sein musste [36]. In der Arbeit von de Jong et al. 2000 hingegen wird die Rate an Unterschieden zwischen Obduktion und Leichenfundortuntersuchung mit 12 % (n = 1908) aus 15.771 Fällen über einen Zehnjahreszeitraum angegeben [37]. Einschränkungen sind hier die beträchtlich höhere Fallzahl, eine Fallverteilung, die viel mehr natürliche Todesfälle enthält sowie auch die durchgeführte Leichenfundortuntersuchung durch Nichtärzte.
Bezüglich der Übereinstimmung der festgestellten Todesarten nach Leichenfundortuntersuchungen und den Folgeuntersuchungen lässt sich unser Ergebnis von 77 % mit dem Ergebnis von Bøylestat et al. 2020 vergleichen, die hierzu 72 % angeben. Sie untersuchten 141 Fälle, in denen eine Leichenfundortuntersuchung und anschließend eine Obduktion in Fällen von unerwartetem Kindstod durchgeführt wurde [38].
Bøylestat et al. 2020 berichteten zudem von einem 57 %igen Anteil der Fälle, in denen keine Todesursache bei der Leichenfundortuntersuchung ermittelt werden konnte, im Vergleich zu einem Anteil von 21,5 % in unseren Ergebnissen. Dieses ließe sich möglicherweise zum einen durch die Fälle von unerwartetem Kindstod und der schwierigen Feststellung der genauen Todesumstände am Leichenfundort in solchen Fällen erklären, zum anderen über eine möglicherweise unterschiedlich ausgeprägte Neigung der Rechtsmediziner in Deutschland und Frankreich zur Postulierung von ungeklärten Todesumständen am Leichenfundort.
La Lorin de Grandmaison et al. 2008 ermittelten hier einen Wert von 49 % [35, 38].
Beim Vergleich der dokumentierten Todesursachen anlässlich der Leichenschau vor Ort mit den später festgestellten Todesursachen durch und nach der Obduktion ergab sich in der vorliegenden Studie eine Differenz von 27 %.
Bei Virkkunen et al. (1975) wird sie mit 29,5 %, bei Klaiber (1975) mit 25 % und bei Nashelsky et al. (2003) mit 28 % angegeben. [3941].
Virkkunen et al. ließen geschulte Rechtsmediziner 600 Todesfälle untersuchen, bei denen eine allgemeinärztliche Leichenschau, Obduktion und weitere Zusatzuntersuchungen durchgeführt worden waren, und Klaiber untersuchte insgesamt 471 Fälle, in denen eine reguläre ärztliche Leichenschau mit anschließender Obduktion durchgeführt wurde [39, 40].
Nashelsky et al. (2003) untersuchte 429 Todesfälle in Sydney mit medikolegaler Leichenfundortuntersuchung und anschließender Obduktion durch einen Rechtsmediziner [41]. Alle 3 Autoren erhalten einen Anteilswert, der nahe um den hier ermittelten Anteil von 27 % aller untersuchten Fälle liegt, bei denen eine Differenz zwischen den vor Ort und den bei der Obduktion ermittelten Todesursachen bestand.
Somit zeigt sich, dass der zusätzliche Nutzen einer vollständigen rechtsmedizinischen Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau mitunter entscheidend für den weiteren Untersuchungsprozess sein kann, sowohl was die Richtung und den Umfang der weiteren Untersuchungen als auch was die spätere Gerichtsverhandlung angeht. Zudem sind die hier ermittelten Ergebnisse vergleichbar mit ähnlich gelagerten Studienergebnissen weltweit.
Schlussendlich lässt sich trotz einiger Einschränkungen bei der Vergleichbarkeit eine überwiegende Übereinstimmung unserer Ergebnisse mit den vorhandenen Daten in der Literatur feststellen:
Für die Verlässlichkeit der erhobenen Daten spielen zudem noch vorhandene Limitierungen bei der Datenerhebung eine Rolle. Hier sind Lücken in der Dokumentation zu nennen, z. B. aus der Dokumentation nichthervorgehende Verletzungsbefunde am Leichnam (15 %), Ergebnisse von Temperaturmessungen vor Ort (43 %) und Bekleidungsdaten des Leichnams (38 %). Neben nichterhebbaren Daten spielen Faktoren eine Rolle, die den rechtsmedizinischen Untersuchungsprozess stören und Ungenauigkeiten der Daten bei Leichenliegezeitberechnungen zur Folge haben können oder eine solche Berechnung sogar gänzlich ihrer Sinnhaftigkeit berauben, was in 21 % der Fälle eine Rolle gespielt haben könnte. Derartige Faktoren waren u. a. mögliche Temperaturschwankungen durch offene Fenster und Türen, extreme Adipositas des Leichnams oder fortgeschrittene Fäulnisveränderungen.
Weiterhin findet sich im vorliegenden rechtsmedizinischen Untersuchungsgut eine statistische Überrepräsentation an Tötungsdelikten (46 %), die laut Virkkunen et al. 1975 dazu führt, dass, statistisch gesehen, sehr häufig die Leichenschauergebnisse übereinstimmend mit dem Obduktionsergebnis sind [39].
Schließlich ist die Zahl von 121 Fällen mit durchgeführter rechtsmedizinischer Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau relativ hoch, und empirische Erkenntnisse sind formulierbar, eine höhere Fallzahl wäre für statistische Berechnungen jedoch wünschenswert. Aufgrund der überschaubaren Zahl an Untersuchungen pro Jahr (Abb. 1), müsste für eine weitere Steigerung der Fallzahl und damit der Validität der Daten, der Untersuchungszeitraum entweder sehr viel länger oder der Einzugsraum institutsübergreifend, d. h. multizentrisch, gewählt werden.
Die dritte Zielfrage soll durch einen Vorschlag zur Dokumentation einer Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau anhand einer Checkliste (Abb. 6) beantwortet werden, die wir anhand unserer Ergebnisse formuliert haben: https://​drive.​google.​com/​file/​d/​1Uqc2uy2a63g7x33​426P5UhOIa_​m_​oQXY/​view?​usp=​sharing
Zusammenfassung.
Die Durchführung einer Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau sollte standardisiert und an einer Checkliste orientiert erfolgen. Folgende Grundsätze sind dabei zu fordern:
  • Strukturierte Ausbildung und regelmäßiger Einsatz obduktionserfahrener Ärztinnen und Ärzte der Rechtsmedizin am Leichenfundort;
  • unverzügliche zeitnahe rechtsmedizinische Untersuchung eines Leichnams noch am Leichenfundort bei jedem Verdacht auf einen nichtnatürlichen Tod, häufiger bei einer ungeklärten Todesart;
  • enge Kooperation mit den Ermittlungsbehörden bzw. dem Erkennungsdienst hinsichtlich des Prozederes am Leichenfundort;
  • Festlegung von Kriterien, zu denen am Leichenfundort immer dokumentierte Feststellungen getroffen werden müssen (insbesondere z. B. Totenflecke, Totenstarre, Temperaturen, Bekleidungszustand, Wärmequellen, Aufliegefläche des Leichnams, Verletzungen, Spuren);
  • Erstellen eines separaten Leichenfundortberichtes;
  • Erstellen einer separaten rechtsmedizinischen Fotodokumentation zu den Feststellungen am Leichenfundort;
  • Anstreben einer rechtsmedizinischen Obduktion auch bei nur „kleineren“ Unstimmigkeiten;
  • Vereinheitlichung der Dokumentation von Leichenfundortuntersuchungen.
Ein ausführlicher Protokollvorschlag zur Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau ist unter folgendem Link abrufbar: https://​drive.​google.​com/​file/​d/​1Uqc2uy2a63g7x33​426P5UhOIa_​m_​oQXY/​view?​usp=​sharing.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

B. Haberer, R. Dettmeyer und C.G. Birngruber geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Diese retrospektive Studie erfolgte nach Konsultation der zuständigen Ethikkommission und im Einklang mit nationalem Recht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Rechtsmedizinische Leichenfundortuntersuchung mit Leichenschau
Eine retrospektive Analyse aus dem Institut für Rechtsmedizin Gießen (2005–2014)
verfasst von
B. Haberer
Prof. Dr. Dr. R. Dettmeyer
C. G. Birngruber
Publikationsdatum
31.01.2023
Verlag
Springer Medizin
Schlagwörter
Leichenschau
Autopsie
Erschienen in
Rechtsmedizin / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-022-00608-7

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