9.1 Welche Besonderheiten weist die betrachtete Gruppe auf?
9.2 Wie ist das Angebot an Arzneimitteln zu bewerten?
Jahr der Zulassung | Anwendung | Indikation | Bewertung nach AMNOGa | |
---|---|---|---|---|
Interferon beta-1b | 1995 | s. c., alle 2 Tage | RRMS, SPMS | – |
Interferon beta-1a | 1997 | i. m., 1× wöchentlich | RRMS | – |
Interferon beta-1a | 1998 | s. c., 3×/Woche | RRMS, SPMS | – |
Glatirameracetat | 2001 | s. c., 1× täglich (3×/Woche seit 2015) | RRMS | – |
Mitoxantron | 2003 | i. v., alle 3 Monate | RMS | – |
Natalizumab i. v. | 2006 | i. v., alle 4 Wochen | RRMS | – |
Fingolimod | 2011 | p. o., 1× täglich | RRMS | ja |
Alemtuzumab | 2013 | i. v., 2 Therapiezyklen | RRMS | nein |
Teriflunomid | 2013 | p. o., 1× täglich | RRMS | ja |
Dimethylfumarat | 2014 | p. o., 2× täglich | RRMS | ja |
Peg-Interferon beta 1a | 2014 | s. c., alle 2 Wochen | RRMS | nein |
Daclizumabb | 2016 | (s. c.) | (RRMS) | nein |
Cladribin | 2017 | p. o., 2 (bis 4) Therapiezyklen | RMS | ja |
Ocrelizumab | 2018 | i. v., alle 6 Monate | RRMS, PPMS | ja |
Siponimod | 2020 | p. o., 1× täglich | SPMS | ja |
Ozanimod | 2020 | p. o., 1× täglich | RRMS | ja |
Ponesimod | 2021 | p. o., 1× täglich | RRMS | ja |
Natalizumab s. c. | 2021 | s. c., alle 4 Wochen | RRMS | nein |
Ofatumumab | 2021 | s. c., alle 4 Wochen | RRMS | nein |
Diroximelfumarat | 2021 | p. o., 2× täglich | RRMS | nein |
9.2.1 Wie bewertet man Wirksamkeit?
9.2.2 Alter Wein in neuen Schläuchen – was ist Innovation?
9.2.3 MS-Immuntherapeutika im AMNOG-Verfahren
Beurteilter Zusatznutzen | Zweckmäßige Vergleichstherapie | Ausmaß und Wahrscheinlichkeit eines Zusatznutzens |
---|---|---|
Teriflunomid (Beschluss vom 30.03.2014a) | ||
Erwachsene Patienten mit schubförmig-remittierender MS. | Beta-Interferon (IFN-β) 1a oder IFN-β 1b oder Glatirameracetat unter Beachtung des jeweils zugelassenen Anwendungsgebietes. | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
Beschluss vom 20.01.2022b: Kinder und Jugendliche von ≥ 10 bis < 18 Jahren mit schubförmig-remittierender MS (Neues Anwendungsgebiet) | ||
Kinder und Jugendliche von ≥ 10 bis < 18 Jahren mit schubförmig-remittierender MS, die bislang noch keine krankheitsmodifizierende Therapie erhalten haben oder mit krankheitsmodifizierender Therapie vorbehandelte Kinder und Jugendliche, deren Erkrankung nicht hochaktiv ist. | Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat, unter Berücksichtigung des Zulassungsstatus. | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
Dimethylfumarat (Beschluss vom 16.10.2014c) | ||
Erwachsene Patienten mit schubförmig remittierender MS. | Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat. | … gegenüber Beta-Interferon 1a: Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
Fingolimod:
| ||
Beschluss vom 19.05.2016 d: Patienten mit hochaktiver schubförmig-remittierender MS, die nicht auf einen vollständigen und angemessenen Zyklus mit mindestens einer krankheitsmodifizierenden Therapie angesprochen haben, … | ||
a) … für die in einer patientenindividuellen Bewertung unter Berücksichtigung der klinischen Gesamtsituation, insbesondere der Schwere der Schübe, eine Umstellung in Abhängigkeit von der Vortherapie oder ggf. eine Fortführung bzw. Anpassung der vorangegangenen Therapie in Frage kommt. | Glatirameracetat oder Interferon-beta (IFN-β) 1a oder 1b, Umstellung in Abhängigkeit von der Vortherapie, ggf. Fortführung bzw. Anpassung der vorangegangenen Therapie. | … gegenüber IFN-β 1a: Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
b) … für die in einer patientenindividuellen Bewertung unter Berücksichtigung der klinischen Gesamtsituation, insbesondere der Schwere der Schübe, ein Wechsel auf eine Eskalationstherapie die Therapieform ist. | Patientenindividuelle Therapie unter Berücksichtigung der Vortherapie und der Zulassung. | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
Beschluss vom 01.10.2015e: | ||
Patienten mit rasch fortschreitender schwerer schubförmig-remittierend verlaufender MS. | Glatirameracetat oder Beta-Interferone 1a oder 1b. | … gegenüber Interferon-β 1a: Hinweis auf einen geringen Zusatznutzen. |
Beschluss vom 20.06.2019f: Kindern und Jugendliche ab einem Alter von 10 Jahren (Neues Anwendungsgebiet) | ||
Kinder und Jugendliche von ≥ 10 bis < 18 Jahren mit hochaktiver schubförmig-remittierender MS trotz Behandlung mit einem vollständigen und angemessenen Zyklus mit mindestens einer krankheitsmodifizierenden Therapie, … | ||
a1) … für die eine Eskalation der Therapie angezeigt ist. | Therapie nach Maßgabe des Arztes | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
a2) … für die ein Wechsel innerhalb der Basistherapeutika angezeigt ist. | Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat, unter Berücksichtigung des Zulassungsstatus | … gegenüber Interferon beta-1a: Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen. |
Kinder und Jugendliche von ≥ 10 bis < 18 Jahren mit rasch fortschreitender schwerer schubförmig-remittierend verlaufender MS, definiert durch zwei oder mehr Schübe mit Behinderungsprogression in einem Jahr, und mit einer oder mehr Gadolinium-anreichernden Läsionen im MRT des Gehirns oder mit einer signifikanten Erhöhung der T2-Läsionen im Vergleich zu einer kürzlich durchgeführten MRT … | ||
b1) …, die bislang noch keine krankheitsmodifizierende Therapie erhalten haben. | Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat, unter Berücksichtigung des Zulassungsstatus | … gegenüber Interferon beta-1a: Anhaltspunkt für einen nicht quantifizierbaren Zusatznutzen. |
b2) … trotz krankheitsmodifizierender Therapie. | Therapie nach Maßgabe des Arztes | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
Cladribin: Beschluss vom 17.05.2018g | ||
a) Patienten, die bislang noch keine krankheitsmodifizierende Therapie erhalten haben. | Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat unter Berücksichtigung der Zulassung | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
b) Patienten mit hochaktiver Erkrankung trotz Behandlung mit einer krankheitsmodifizierenden Therapie. | Alemtuzumab oder Fingolimod oder Natalizumab oder, sofern angezeigt, Wechsel innerhalb der Basistherapeutika (Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat unter Berücksichtigung der Zulassung) | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
Ocrelizumab: Beschluss vom 02.08.2018h | ||
a) Erwachsene Patienten mit schubförmiger MS mit aktiver Erkrankung, die bislang noch keine krankheitsmodifizierende Therapie erhalten haben oder mit krankheitsmodifizierender Therapie vorbehandelte erwachsene Patienten, deren Erkrankung nicht hochaktiv ist. | Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat unter Berücksichtigung der Zulassung | … gegenüber Interferon beta-1a: Beleg für einen geringen Zusatznutzen. |
b) Erwachsene Patienten mit schubförmiger MS mit hochaktiver Erkrankung trotz Behandlung mit einer krankheitsmodifizierenden Therapie: | Alemtuzumab oder Fingolimod oder Natalizumab oder, sofern angezeigt, Wechsel innerhalb der Basistherapeutika (Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat unter Berücksichtigung der Zulassung) | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
c) Erwachsene Patienten mit früher primär progredienter MS, charakterisiert anhand der Krankheitsdauer und dem Grad der Behinderung, sowie mit Bildgebungsmerkmalen, die typisch für eine Entzündungsaktivität sind: | Best-Supportive-Care | Anhaltspunkt für einen geringen Zusatznutzen. |
Siponimod: Beschluss vom 20.08.2020i | ||
a) Erwachsene Patienten mit sekundär progredienter MS mit aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung der entzündlichen Aktivität, mit aufgesetzten Schüben. | Interferon-beta 1a oder Interferon-beta 1b oder Ocrelizumab | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
b) Erwachsene Patienten mit sekundär progredienter MS mit aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung der entzündlichen Aktivität, ohne aufgesetzte Schübe. | Best-Supportive-Care | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
Ozanimod: Beschluss vom 07.01.2021j | ||
a) Erwachsene Patienten mit schubförmig remittierender MS mit aktiver Erkrankung, die bislang noch keine krankheitsmodifizierende Therapie erhalten haben oder mit krankheitsmodifizierender Therapie vorbehandelte erwachsene Patienten, deren Erkrankung nicht hochaktiv ist. | Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat oder Ocrelizumab unter Berücksichtigung der Zulassung. | … gegenüber Interferon beta-1a: Hinweis für einen geringen Zusatznutzen. |
b) Erwachsene Patienten mit schubförmig remittierender MS mit hochaktiver Erkrankung trotz Behandlung mit einer krankheitsmodifizierenden Therapie. | Alemtuzumab oder Fingolimod oder Natalizumab | Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
Ponesimod: Beschluss vom 19.05.2022k | ||
a1) Erwachsene mit schubförmiger MS, die bislang noch keine krankheitsmodifizierende Therapie erhalten haben oder mit krankheitsmodifizierender Therapie vorbehandelte Erwachsene, deren Erkrankung nicht hochaktiv ist; EDSS-Score ≤ 3,5. | Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat oder Dimethylfumarat oder Teriflunomid oder Ocrelizumab unter Berücksichtigung der Zulassung. | … gegenüber Teriflunomid: Hinweis für einen geringen Zusatznutzen. |
a2) Erwachsene mit schubförmiger MS, die bislang noch keine krankheitsmodifizierende Therapie erhalten haben oder mit krankheitsmodifizierender Therapie vorbehandelte Erwachsene, deren Erkrankung nicht hochaktiv ist; EDSS-Score > 3,5. | Interferon beta-1a oder Interferon beta-1b oder Glatirameracetat oder Dimethylfumarat oder Teriflunomid oder Ocrelizumab unter Berücksichtigung der Zulassung. | … gegenüber Teriflunomid: Ein Zusatznutzen ist nicht belegt. |
Diroximelfumarat: Beschluss vom 16.06.2022l: | ||
Verfahren ausgesetzt. |
9.2.4 Was ist Betroffenen wichtig?
9.2.5 Treat to target: Kontroverse um die neue Leitlinie
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Eine Immuntherapie ist unmittelbar und prinzipiell nach Diagnose einer MS oder eines klinisch isolierten Syndroms (als deren Vorstufe) indiziert. Es kann aber, vor allem wenn eine entsprechende Patientenpräferenz besteht, ein Zuwarten unter engmaschiger Beobachtung vertretbar sein, wenn es Hinweise auf einen milden Verlauf gibt.
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Es sollen realistische Therapieziele angestrebt und mit der Patientin oder dem Patienten besprochen werden. Hierzu gehören die Reduktion von klinischer Krankheitsaktivität (Schübe und Behinderungsprogression) und der Erhalt der Lebensqualität. Ein weiteres Ziel ist es, kernspintomographisch messbare subklinische Krankheitsaktivität zu verhindern.
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Neben den zu erwartenden Therapieeffekten sollen auch Aspekte wie Verträglichkeit, Nebenwirkungsprofil und Langzeitsicherheit eine Rolle bei der Auswahl spielen.
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Nach langjähriger Krankheit und langjährig unter Immuntherapie sistierter Krankheitsaktivität kann in Einzelfällen eine Beendigung der Therapie erwogen werden – dies aber nur im Bewusstsein, dass die noch bestehende Wirkung der Immuntherapie eben gerade die Voraussetzung für den stabilen Krankheitsverlauf war. Diese Entscheidung stellt wesentlich die langfristige Therapielast der Betroffenen in Rechnung und die Tatsache, dass die Wirksamkeit der Immuntherapeutika im Alter deutlich nachlässt.
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Gemäß der in den Zulassungsstudien gemessenen Schubratenreduktion werden die verfügbaren Präparate in drei Wirksamkeitskategorien eingeteilt (siehe Abb. 9.1). Bei Hinweisen auf einen (hoch)aktiven Verlauf mit unbehandelt tendenziell schlechterer Prognose soll Patienten ein Präparat der Wirksamkeitskategorie 2 oder 3 angeboten werden.
9.2.6 Originatoren, Biosimilars und Generika
9.3 Wie gut sind Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzte bzw. weitere Leistungserbringende in Deutschland informiert?
9.4 Was kann verbessert werden?
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Aus Sicht der Betroffenen wäre es wünschenswert, dass die Behandlung mit hochwirksamen, oft aber auch mit Risiken behafteten Immuntherapeutika in der Hand von Expertinnen und Experten liegt, die mit der Krankheit MS und dem Management der zahlreichen Präparate und ihrer Nebenwirkungen vertraut sind. Diese Empfehlung wird auch in der neuen Leitlinie der European Academy of Neurology (EAN) und des European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis (ECTRIMS) ausgesprochen (Amato 2022). Damit sollte sich die Behandlung MS-Betroffener aber nicht auf wenige Expertinnen und Experten sowie Zentren beschränken – vielmehr muss die Aufgabe sein, die Breite der MS-Patientinnen und -Patienten behandelnden Ärztinnen und Ärzte fortlaufend zu Experten zu qualifizieren.
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Studien in anderen Ländern haben dabei als Problem die sogenannte therapeutic inertia beschrieben – vielleicht am besten mit „therapeutischer Unbeweglichkeit“ oder „therapeutischem Verharren“ zu übersetzen. Die Verfügbarkeit einer zunehmenden Zahl von Immuntherapeutika zur Behandlung der MS mit immer mehr zu beachtenden Details zu spezifischem Monitoring, Nebenwirkungen etc. macht die ohnehin schon komplexen Therapieentscheidungen tendenziell noch komplizierter und unübersichtlicher – Neurologinnen und Neurologen müssen sorgfältig abwägen zwischen Krankheitsaktivität, persönlicher Risikobereitschaft und Risikowissen bei den zu Behandelnden, deren Lebensumständen, Familienplanung, Begleiterkrankungen und dem Nebenwirkungsprofil der Immuntherapeutika. Therapeutic inertia meint in diesem Kontext, dass viele Ärztinnen und Ärzte zum Erhalt des Status quo neigen, was bedeutet, dass Behandlungsentscheidungen unterbleiben oder verzögert werden, selbst wenn Behandlungsziele nicht erreicht sind. Dies kann sich erheblich zum Nachteil der zu Behandelnden auswirken. Initiativen, dieses Verhalten durch gezielte Interventionen abzubauen, sind unlängst auf den Weg gebracht worden (Langer-Gould et al. 2021; Saposnik et al. 2019).
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Gleichermaßen zu wünschen sind alle Aktivitäten zur Wissensvermittlung an Patientinnen und Patienten, etwa über die Risiken der MS, der Immuntherapie und das Monitoring der Erkrankung z. B. mittels MRT. Dies ist zeitaufwendig und kommt daher in sehr vollen Praxen oft zu kurz, solange keine speziellen Ressourcen dafür vorgehalten werden. Daher sollten diese Aufwände über die Versicherungen abgerechnet werden können. Der finanzielle Mehraufwand wird sich mutmaßlich nach wenigen Jahren mehr als rechnen, da besser informierte Patientinnen und Patienten gemeinsam mit ihren Ärztinnen und Ärzten tragfähigere Therapieentscheidungen treffen.
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Für die Verbesserung der Qualität prospektiver klinischer Studien und der Relevanz der Ergebnisse für die Betroffenen wäre es zu begrüßen, wenn patienten-relevante bzw. patienten-berichtete Endpunkte (sogenannte PROs – patient reported outcomes) zwingend zumindest als sekundäre Endpunkte in klinischen Studien erhoben würden und positive Effekte auf diese Endpunkte Voraussetzung für eine Zulassung wären.
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Wesentliche Schwächen hat die Arzneimittelversorgung der Multiplen Sklerose darüber hinaus bei der Generierung von Real-World-Daten, die aber eine bessere Steuerung erlauben würden. Wirklich etabliert ist die Sammlung von Daten zur Behandlung mit Immuntherapeutika leider nur über das Instrument der sogenannten „Anwendungsbeobachtungen“, die von der pharmazeutischen Industrie durchgeführt werden. Aus Sicht der Autoren gehören diese abgeschafft, da hier in der Regel nur die Verordnungsbereitschaft und Persistenz für bestimmte Präparate über eine in der Regel üppig honorierte Sammlung minderwertiger klinischer Daten erhöht oder unterhalten wird.Um zu sehen, wie es besser gemacht werden kann, lohnt ein Blick zu unseren Nachbarn: In skandinavischen Ländern wie Dänemark oder Schweden gibt es seit vielen Jahren exzellente MS-Register, in denen annähernd jede Patientin oder jeder Patient mit einer MS-Diagnose und Immuntherapie erfasst wird – und zwar über alle Präparate hinweg und unabhängig von der pharmazeutischen Industrie. Diese umfassenden Daten haben gerade in den letzten Jahren wesentliche Erkenntnisse zu diversen Immuntherapiestrategien geliefert, die mangels echter Head-to-Head-Studien ansonsten nicht hätten verglichen werden können.Eine möglichst vollständige Erfassung aller MS-Erkrankten und ihrer Immuntherapien in einem flächendeckenden Register auch in Deutschland würde eine exzellente Möglichkeit zur Durchführung von klassischen Register-Studien, Register-basierten RCTs (randomized controlled trial) oder auch neuen Studiendesigns, die nichtinterventionell auf real world evidence beruhen, aber ein RCT nachempfinden (sogenannte emulierte RCTs), darstellen (Franklin et al. 2021; Hernán und Robins 2016). Dies würde helfen, Evidenz zu Wirkungen, Nebenwirkungen und Sicherheit von Immuntherapeutika außerhalb des sehr artifiziellen Settings kontrollierter klinischer Studien zu generieren und so etwa Signale zu selteneren Nebenwirkungen zu detektieren, die Langzeitwirksamkeit zu untersuchen, Immuntherapeutika in Populationen mit Komorbiditäten und Komedikationen zu beobachten – um nur einige Fragestellungen zu nennen. Auch das IQWiG sieht in der Erfassung versorgungsnaher Daten Chancen, die Nutzenbewertung von Arzneimitteln zu verbessern (IQWiG 2020). Derartige Registerdaten könnten zudem helfen, viele der nach wie vor in den Leitlinien offenen Fragen zu beantworten, etwa nach Markern zur Prognoseabschätzung und Risikostratifizierung.Wie immer offen ist die Frage, wie ein solches Register zu finanzieren und wo es anzusiedeln wäre. Dabei gibt es bereits seit vielen Jahren ein von der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG e. V.) betriebenes Register, das mit einigem Aufwand für diese Zwecke erweitert werden könnte.
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Aus Sicht der klinischen Forschung ist es misslich, dass praktisch alle Studien zur Arzneimitteltherapie bei MS von der pharmazeutischen Industrie durchgeführt werden. Die Fördermechanismen zur Unterstützung sog. Forscher-initiierter Studien (IIT, investigator initiated trials) sind in Deutschland unterentwickelt, sowohl was die inhaltliche Breite der Programme angeht als auch das hierfür zur Verfügung stehende finanzielle Volumen. Diese Situation sollte verbessert werden, damit echte Innovationen auch unabhängig von finanziellen Interessen der Industrie bei den Betroffenen ankommen.
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Schließlich bleibt die Frage, welche Anreize die Entwicklung weiterer Arzneimittel für die Behandlung der MS steuern sollen. Während andere Länder Kosten und Nutzen in direktere pharmakoökonomische Beziehung setzen und die Kostenübernahme durch die Gemeinschaft strenger davon abhängig machen (Beispiel Großbritannien/NICE), sind die deutschen Verhältnisse mit dem isolierten und manchmal etwas zahnlosen Vergleich der neuen Einzelsubstanz mit einer bereits vorhandenen Therapie klarer kalkulierbar, befördern aber nicht unbedingt die Risikobereitschaft, echte Innovationen für die weiterhin bestehenden medical needs der MS-Behandlung zu entwickeln. Wenn Me-too-Präparate und Repurposing zu Medikamenten mit wirtschaftlich interessanten Preisen führen, wird – bei allem in den letzten Jahrzehnten für unsere MS-Patientinnen und Patienten Erreichten – weiterer Fortschritt womöglich länger auf sich warten lassen.