Stabiler Krankheitsverlauf als Voraussetzung für eine Schwangerschaft

Bei Frauen tritt die schubförmig remittierende Multiple Sklerose (RRMS) etwa dreimal häufiger auf als bei Männern [1]. Die Erkrankung trifft oftmals Frauen, die im gebärfähigen Alter sind und bei denen die Familienplanung noch nicht abgeschlossen ist. Über ihre Empfehlungen für MS-Patientinnen vor und während der Schwangerschaft und in der Stillzeit berichten Dr. Alexa Krumme, niedergelassene Gynäkologin in Berlin/Birkenwerder, und Prof. Dr. Mathias Mäurer, Chefarzt der Klinik für Neurologie, Klinikum Würzburg Mitte. Dr. Alexa Krumme Biogen × Frau Dr. Krumme, zu welcher Verhütungsmethode raten Sie Frauen unter einer MS-Therapie? Krumme: Ich empfehle Frauen mit MS, die medikamentös behandelt werden, in den meisten Fällen Langzeitkontrazeptiva wie die normale Spirale oder die Hormonspirale, da hierbei die Compliance nicht so eine große Rolle spielt wie bei der Antibaby-Pille. Die Patientin muss zusätzlich zu ihrer MS-Therapie nicht jeden Tag auch noch an die Pille denken. Grundsätzlich sollte die Kontrazeptionsberatung immer individuell ausgerichtet sein und sich an den Bedürfnissen und Präferenzen der Patientin orientieren. Und es sind potentielle Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten zu beachten, die die Patientin einnehmen muss; einige können beispielsweise die kontrazeptive Effektivität der Pille reduzieren. Einer MS-Patientin, die durch ihre Erkrankung stark beeinträchtigt ist, würde ich die klassische Pille mit Östrogen- und Gestagenanteil aufgrund des Thromboserisikos nicht empfehlen. Was raten Sie MS-Patientinnen, die mit Kinderwunsch in die Sprechstunde kommen? Krumme: Ganz wichtig ist es, die Patientin darüber aufzuklären, dass sie in einer stabilen Krankheitsphase mit guter medikamentöser Einstellung geplant schwanger werden sollte. Zweitens sollte ihr die Angst davor genommen werden, als MS-Patientin nicht schwanger werden zu können. Das erlebe ich immer wieder in meiner Praxis: Viele Patientinnen mit MS haben die falsche Einschätzung, dass sie nicht schwanger werden sollten, da die Gravidität einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der MS haben könnte. Dass dies nicht der Fall ist, sage ich meinen Patientinnen ganz deutlich. Im Beratungsgespräch kläre ich meine Patientinnen auch darüber auf, dass die MS keine Erbkrankheit ist. Die Anamnese sollte neben dem Lebensalter, der Parität, dem Verlauf früherer Schwangerschaften auch eine sorgfältige Medikamentenanamnese einschließen. Ich frage die Patientin, welche immunmodulierende Therapie sie erhält und kläre in enger interdisziplinärer Absprache mit dem Neurologen, ob sie vor Eintritt der Schwangerschaft beendet werden muss und ob eine Umstellung auf eine andere Therapie erfolgen sollte. Ich stelle die Patientin mit Kinderwunsch auf 5mg Folsäure ein und verschreibe ihr ein Jodpräparat. In einer stabilen Krankheitsphase mit guter medikamentöser Einstellung geplant schwanger werden" Können MS-Patientinnen normal entbinden? Krumme: Wir sollten die Patientin darauf hinweisen, dass es bei vorhandener Muskelschwäche zu einer vaginal-operativen Entbindung kommen könnte, weil sie nicht so stark pressen kann. Vaginal-operative Entbindung bedeutet, dass die Geburt mit einer Saugglocke oder einer Geburtszange beendet wird. Schwangere unter Therapie mit einem Muskelrelaxans sollten das Präparat in der 34. Woche absetzen, weil die Kinder sonst nach der Geburt einen Überhang aufweisen könnten. Das bedeutet aber auch, dass die Muskelschwäche oder Spastik zur Geburt hin wieder zunimmt und bei der Geburt mit Problemen verbunden sein könnte. In solchen Fällen rate ich manchmal zu einer primären Sectio. Prinzipiell ist festzuhalten, dass jede MS-Patientin spontan entbinden kann, auch ein Kaiserschnitt ist unter Spinalanästhesie möglich. Was empfehlen Sie jungen Müttern in Bezug auf das Stillen? Krumme: Hier hat es im vergangenen Jahr eine positive Entwicklung gegeben. Früher haben wir der Patientin empfohlen, abzustillen. Hintergrund war, dass die MS-Therapie möglichst schnell wieder aufgenommen werden sollte, damit ein Ansteigen der Schubrate verhindert wird. Durch die kürzlich erfolgte Zulassungsänderung bei den Interferonen haben wir nun eine neue Beratungssituation, die wir sehr begrüßen. Wir Ärzte können jetzt unseren Patientinnen sagen: „Sie müssen das Interferon-Präparat nicht absetzen, Sie können es die ganze Schwangerschaft hindurch anwenden. Und Sie können sogar unter dieser Therapie Ihr Kind stillen, ohne dass es wahrscheinlich Schaden nimmt.“ Prof. Dr. Mathias Mäurer Biogen × Herr Professor Mäurer, könnten Sie bitte die Hintergründe dieser Zulassungsänderung näher erläutern? Mäurer: Die Europäische Arzneimittel-Agentur hat im letzten Herbst eine Zulassungsänderung für Interferon-beta-Präparate wie Peginterferon beta-1a und Interferon beta-1a empfohlen. Diese Änderung betrifft die Streichung der Kontraindikation ‚Therapiebeginn in der Schwangerschaft‘ sowie den Einsatz nach Nutzen-Risiko-Abwägung. Nach Anpassung der Zulassung können nun die Interferon-beta-Präparate – wo klinisch erforderlich – während der Schwangerschaft in Betracht gezogen und in der Stillzeit bei Frauen mit schubförmig remittierender MS angewendet werden. Die Aktualisierung basiert auf Daten des Europäischen Interferon beta-Schwangerschaftsregisters (European Interferon Beta Pregnancy Registry) sowie nationalen Gesundheitsregistern in Finnland und Schweden. Zusammen ergab sich daraus die größte Kohortenstudie mit Sicherheitsdaten zur Interferon-beta-Exposition bei MS-Patientinnen im gebärfähigen Alter. Es zeigte sich eindeutig, dass die Rate von Spontanaborten und kongenitalen Missbildungen bei mit Interferon beta-Präparaten therapierten MS-Patientinnen in dem Bereich liegen, der auch für die Normalbevölkerung bzw. für MS-Patienten ohne diese Therapie zu erwarten ist. Ich schätze diese Daten als insgesamt sehr ermutigend für die medikamentöse Behandlung von Frauen mit MS ein. Zu welchen Ergebnissen kamen die Studien, in denen die Problematik des Stillens bei Frauen unter Interferontherapie untersucht wurde? Mäurer: Diese Studien belegen, dass die Belastung des Säuglings im Promillebereich der Dosis liegt, die die Mutter bei der Interferoninjektion erhält. Sehr positiv zu bewerten ist die Tatsache, dass keine Nebenwirkungen beim Säugling festgestellt werden konnten. Insgesamt betrachtet hat die Zulassungsänderung weitreichende Konsequenzen. Wir haben zum einen an Sicherheit gewonnen, Interferon-beta-Präparate vor und in der Gravidität einzusetzen. Eine weitere gute Nachricht für die MS-Patientin ist: Unter Interferongabe kann sie ihr Kind stillen. Karen Roach / Fotolia × Welchen Stellenwert haben Interferone heute in der Behandlung der MS? Mäurer: Interferon-beta-Präparate wie Avonex® haben nach wie vor ihren festen Platz in der MS-Therapie und sind aufgrund der Langzeiterfahrung Medikamente, die sich durch ein klares Sicherheitsprofil auszeichnen. Diese Eigenschaft macht sie zu wertvollen Arzneimitteln, vor allem auch in speziellen Situationen wie Kinderwunsch und Schwangerschaft. Die Pegylierung von Interferon beta-1a war ein Fortschritt, weil auf diese Weise die Injektionsfrequenz gesenkt und die Adhärenz gesteigert werden konnten. Zudem kann die Pegylierung die Wirkstärke erhöhen. Insgesamt betrachtet, stehen uns mit den Interferonpräparaten bewährte Medikamente zur Verfügung, mit denen wir Praxiserfahrung in über zwanzig Jahren gesammelt haben. Diese Arzneimittel haben Vorteile gegenüber neueren Wirkstoffen, beispielsweise was die Medikamentensicherheit betrifft. Mit den Interferonpräparaten stehen uns bewährte Medikamente zur Verfügung, die nach wie vor ihren festen Platz in der MS-Therapie haben" Welche Empfehlungen haben Sie aus der Sicht des Neurologen für MS-Patientinnen mit Kinderwunsch? Mäurer: Untersuchungen haben gezeigt, dass auch die Schwangerschaft selbst einen gewissen immunsuppressiven Effekt hat: Die Schubrate nimmt in der Regel während der Schwangerschaft ab. Wir sollten die Frauen aber auch darüber aufklären, dass die Schubrate nach der Geburt wieder ansteigt und dass die Gravidität selbst am Krankheitsverlauf der MS nichts ändert. Heute wissen wir, dass entscheidend ist, wie der Krankheitsverlauf vor der Schwangerschaft war. Denn die Schubrate vor Eintritt der Schwangerschaft hat eine sehr gute Entsprechung mit der Schubrate nach der Entbindung. Wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten klar gelernt: Der MS-Patientin mit Kinderwunsch sollten wir empfehlen, stabil und medikamentös gut eingestellt eine Schwangerschaft zu planen. Video-Interview online Unter dem Link www.esanum.de/ms-infocenter/tandeminterview können Sie das komplette Interview mit Dr. Krumme und Prof. Dr. Mäurer als Video abrufen. Literatur Koch-Henriksen N, Sorensen PS, Lancet Neurol 2010, 9:520–532 Impressum „Multiple Sklerose – Stabiler Krankheitsverlauf als Voraussetzung für eine Schwangerschaft” Interview und Bericht: Gudrun Girrbach, Hilden Artikel gedruckt in: gynäkologie + geburtshilfe 2/2020, InFo Neurologie + Psychiatrie 5/2020, MMW – Fortschritte der Medizin 7/2020 Mit freundlicher Unterstützung der Biogen GmbH, München Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Andrea Krahnert Springer Medizin Verlag GmbH, Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. 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