Neurogene Prozesse
Bei relativ frischen umschriebenen peripheren motorischen Läsionen mit axonaler Degeneration, die mehr als 2 Wochen andauern, lässt sich der Läsionsort oft präzise mit PSA lokalisieren. Das PSA-Verteilungsmuster folgt dabei der jeweiligen Innervation von Nervenwurzeln, Nervenplexus bzw. peripheren Nerven. Da der erste Ast einer Nervenwurzel zur Rückenmuskulatur abzweigt, lässt sich ein segmentaler PSA-Befall der Rückenmuskulatur nutzen, um eine radikuläre Läsion zu sichern [
30]. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nur für die tiefer gelegenen Multifidi eine monosegmentale Innervation anzunehmen ist [
31]. Auf ein EMG der Rückenmuskulatur sollte im Falle einer zurückliegenden Operation an der Wirbelsäule im betroffenen Gebiet verzichtet werden, da perioperative Nervenastläsionen zu falsch-positiven Befunden führen könnten. Ferner sollte auf die Absicherung des monoradikulären Befalls Wert gelegt werden, etwa indem einige Etagen oberhalb bzw. unterhalb des betroffenen Segmentes nach PSA gesucht wird.
Es gibt deutliche Belege dafür, dass die paravertebrale Muskulatur Radikulopathien elektromyographisch sensitiver sichern hilft als die Extremitätenmuskulatur [
32]. Als Kritik an der Untersuchung paravertebraler Muskeln wird angeführt, dass PSA der paravertebralen Muskulatur bei Menschen mit einem Diabetes mellitus sowie bei älteren gesunden Personen unspezifisch gehäuft anzutreffen wäre [
30]. Aus unserer Sicht trifft dies nicht zu. Wir gehen vielmehr davon aus, dass es sich um den relativ häufigen Fall asymptomatischer oder oligosymptomatischer Fälle von etwa einer PROMM oder anderen leichteren Fällen muskeldystrophischer Erkrankungen handelt, die mithilfe moderner genetischer Verfahren zunehmend besser diagnostisch erfasst und zugeordnet werden können.
Für Plexusneuropathien spielt neben dem PSA-Verteilungsmuster in der Extremitätenmuskulatur die Abwesenheit von PSA in paravertebraler Muskulatur eine wesentliche diagnostische Rolle [
33]. Bei akuten entzündlichen Plexusneuropathien, wie etwa dem Parsonage-Turner-Syndrom oder der Lyme-Plexusneuritis, spielt PSA aus unserer Erfahrung aufgrund des verzögerten Auftretens gegenüber klinischen, bildgebenden und liquordiagnostischen Befunden oft eine untergeordnete Rolle. Allerdings gibt es leichtere oder atypische Fälle von Plexusneuropathien, in denen die akute Diagnostik nicht ergiebig ist. In diesen Fällen kann das PSA-Verteilungsmuster durchaus zur Diagnosefindung beitragen. Bei länger bestehender Symptomatik, wie etwa beim Thoracic-outlet-Syndrom oder der radiogenen Plexusneuropathie, spielt die PSA neben der Potenzialanalyse motorischer Einheiten eine wesentliche Rolle [
34]. Im Fall des Arteria-spinalis-anterior-Syndroms kann PSA dabei helfen, die Ausdehnung der Rückenmarksläsion zu charakterisieren. Nämlich dann, wenn eine ischämische Rückenmarksläsion mittels Magnetresonanztomographie nicht fassbar ist. Gerade beim häufigen thorakalen bzw. thorakolumbalen Befallsmuster beim Arteria-spinalis-anterior-Syndrom trägt das Vorliegen von PSA zur Diagnosesicherung erheblich bei [
35].
Bei einer PNP kann das Vorliegen von PSA für die Abschätzung der Akuität der Erkrankung herangezogen werden. Meist sind PNP relativ langsam progrediente Prozesse, bei denen PSA eher ungewöhnlich und wenn überhaupt, dann nur spärlich vorhanden ist. Es gibt jedoch auch akute oder subakute Formen der PNP (z. B. Guillain-Barré-Syndrom, chronische inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP), multifokale motorische Neuropathie (MMN), Critical-illness-PNP, PNP bei rheumatischen Erkrankungen). Hier darf aus unserer Erfahrung mit mäßig oder gar stärker ausgeprägter PSA gerechnet werden. In unseren Händen findet sich bei sog. distal symmetrischen PNP unklarer Pathogenese nicht selten PSA in der Rückenmuskulatur, insbesondere am thorakolumbalen Übergang. Sofern ebendort Hinweise für einen neurogenen Umbau der PME fehlen, kann dieser Befund als möglicher Hinweis dafür dienen, dass es sich nicht um eine isolierte PNP handelt, sondern um eine multisystemische Erkrankung mit Beteiligung sowohl der peripheren Nerven als auch der Muskulatur. Dies kommt u. a. bei Kollagenosen vor sowie auch bei hereditären NME (z. B. proximale myotone Myopathie, M. Pompe). Darüber hinaus gehört PSA zur diagnostischen Absicherung der Vorderhornbeteiligung bei motorischen Systemerkrankungen (z. B. ALS). Die im Krankheitsverlauf ubiquitär nachweisbare PSA findet man neben dem ebenfalls ubiquitär fassbaren neurogenen Umbau mit persistierendem Sprouting-Phänomen bei kaum einer anderen Erkrankung als der ALS.
Myogene Prozesse
Anders als bei motorisch-axonaler (neurogener) Degeneration sind Vorkommen und Befallsmuster von PSA bei primär myogenen Erkrankungen recht heterogen (Abb.
2). Zu den Myopathien, bei denen PSA kaum eine Rolle spielt, gehören u. a. die Steroidmyopathie, die Glykogenose Typ V (Mc Ardle), die kongenitalen Myopathien aufgrund von Mutationen im Ryanodin-Rezeptor‑1 sowie kongenitale Nemalin-Myopathien [
36]. Hingegen wird bei inflammatorischen Myopathien in proximalen Muskeln PSA regelmäßig angetroffen, allen voran bei der Polymyositis sowie der Dermatomyositis [
37]. Interessanterweise kann in den wenigen Fällen ausgeprägter Statin-Myopathien PSA ähnlich verteilt sein wie bei Polymyositis [
38]. Bei der Einschlusskörpermyositis findet sich der PSA-Befall initial vor allem in den Hand- und Fingerbeugern, im Quadrizeps sowie den Fußhebern [
18,
37]. Demgegenüber findet sich PSA bei der distalen Myopathie vom Typ Welander initial eher in den Hand- und Fingerstreckern bzw. den Zehen- und Fußhebern [
23] und bei Patienten mit Muskeldystrophien vom Typ Miyoshi (Dysferlinopathien bzw. Anoctamin-5-Myopathien) eher in den Fußsenkern [
39].
Prospektive Vergleichsstudien zum Vorliegen von PSA in definierten Muskeln unter definierten Untersuchungsbedingungen (Zahl der Nadelinsertionen etc.) bei einem Spektrum verschiedener Myopathien liegen bislang nicht vor. Für eine Stichprobe verschiedener Myopathien haben Hanisch und Mitarbeiter in einer retrospektiven Analyse gezeigt, dass PSA bei einigen Myopathien häufiger anzutreffen ist als bei anderen [
18]. Dabei fanden sich Fi und PSW wie auch HERE bei folgenden Erkrankungen regelmäßig: sporadische Einschlusskörpermyositis, PROMM, M. Pompe, Matrin-3-Myopathie sowie zentronukleäre Myopathie. Weniger oft und vor allem auch in geringerer Ausprägung zeigte sich PSA bei verschiedenen dystrophischen Myopathien, wie etwa der fazioskapulohumeralen Dystrophie oder bei verschiedenen Gliedergürtelmuskeldystrophien [
18].
Es gibt relativ wenige elektromyographische Untersuchungen, die sich der Frage der diagnostischen Wertigkeit unterschiedlicher Muskeln bei Patienten der gleichen Muskelerkrankung gewidmet haben. Hanisch und Mitarbeiter haben gefunden, dass PSA bei PROMM, M. Pompe, Matrin-3-Myopathie sowie zentronukleärer Myopathie besonders häufig und ausgeprägt in der Rückenmuskulätur zu detektieren war [
18]. In einer weiteren Arbeit von Hanisch und Mitarbeitern wurde dies bereits für die myofibrillären Mopathien bestätigt, also Erkrankungen auf Grundlage von Mutationen in den Genen für Myotilin, Desmin, Filamin‑C und ZASP [
19]. Eine umfangreiche Analyse zu PSA in verschiedenen Muskeln bei Patienten mit M. Pompe hat eindrücklich bestätigt, dass PSA in der Rückenmuskulatur deutlich häufiger zu finden ist als in der Extremitätenmuskulatur [
40]. Auch in einer Arbeit zur Matrin-3-Myopathie wurde gezeigt, dass Fi, PSW und HERE, abgesehen von distaler Muskulatur in der paraspinalen Muskulatur besonders häufig nachweisbar sind [
41]. Bei PROMM-Patienten, bei denen PSA nicht fassbar war, ist in der Regel die Rückenmuskulatur nicht mit EMG untersucht worden [
6]. Diese Beispiele zeigen, dass der Rückenmuskulatur zur PSA-Detektion ein besonderer Stellenwert zukommt. Bei der Diagnostik myopathischer Erkrankungen erscheint die paravertebrale Muskultur am thorakolumbalen Übergang nicht nur hinsichtlich der Analyse motorischer Einheitenpotenziale die „vergessene Muskulatur“ zu sein, sondern gerade auch bei der sensitiveren PSA-Analyse. Nicht wenige Myopathiepatienten werden nicht durch Paresen klinisch auffällig, sondern durch Myalgien, Crampi oder Hyper-CK-Ämie. Wir möchten aufgrund der hier vorgelegten Befunde dazu anregen, bei diesen Patienten neben der Extremitätenmuskulatur regelmäßig auch die Rückenmuskulatur am thorakolumbalen Übergang in den elektromyographischen Untersuchungsgang mit einzubeziehen.
Da die EMG-Untersuchung der Rückenmuskulatur noch nicht allseits zur Routine gehört, möchten wir an dieser Stelle kurz skizzieren, wie wir es machen. Der Patient wird seitlich gelagert, und zwar in einer „Embryo“-Stellung, also mit maximaler Beugung in Hüfte und Knien und maximaler ventraler Beugung der gesamten Wirbelsäule. Der Kopf wird (falls möglich) maximal gebeugt auf eine weiche Rolle gelegt. Wichtig erscheint es, dass die Arme locker und im Ellenbogen gebeugt vor dem Bauch liegen. Keineswegs sollen die Hände am Knie gehalten werden, weil dabei oft eine Anspannung der Schulter- und Rückenmuskulatur ausgelöst wird. Wenn dabei keine hinreichende Entspannung der Rückenmuskulatur erzielt wird, hilft es in der Regel, wenn der Untersucher mit den Händen oberen Rücken und Knie des Patienten etwas gegeneinander drückt. Dabei wird die Rückenbeugung verstärkt und die Entspannung der Rückenmuskulatur gefördert. Sodann wird z. B. am thorakolumbalen Übergang der Raum zwischen zwei Dornfortsätzen getastet. Die Nadel wird etwa 2 Querfinger lateral dieses Raumes senkrecht eingestochen.