In der aktuellen Untersuchung wurde eine Sekundärdatenanalyse durchgeführt. Der große Vorteil lag darin, dass dadurch Personen erfasst werden konnten, die aufgrund ihrer lebensbedrohlichen und lebensverkürzenden Erkrankungen vermutlich nicht für eine Primärdatenerhebung zur Verfügung gestanden hätten [
16]. Des Weiteren entfällt bei dieser Form der Analyse ein Drop-out oder eine Verweigerung zur Teilnahme und da es sich um Routinedaten handelt, werden Verzerrungen wie Erinnerungs- und Interviewbias vermieden [
16‐
19].
Die PraeKids-Studie zeigt einen deutlichen Unterschied zwischen der erhobenen Prävalenzzahl von über 300.000 diagnostizierten Betroffenen und der in der Literatur verwendeten, jedoch nicht empirisch erhobenen Anzahl von 50.000 Kindern und Jugendlichen mit lebensbedrohlichen und lebensverkürzenden Erkrankungen. Die Studie von Fraser et al. [
4], auf die sich die letztgenannte Zahl bezieht, und die vorliegende Untersuchung beruhen auf unterschiedlichen Forschungsdesigns inklusive divergierender Falldefinitionen. Bei PraeKids wurden im Gegensatz zu den englischen Studien sowohl stationäre als auch ambulante Fälle einbezogen (sofern letztere das M2Q-Kriterium erfüllten), da nicht alle Kinder und Jugendlichen mit lebensbedrohlichen Gesundheitsverläufen regelmäßiger stationärer Versorgung bedürfen. Des Weiteren wurden in der Prävalenzberechnung aus Deutschland auch lebensbedrohliche Erkrankungen berücksichtigt, die nicht zwingend zu einem frühen Tod und einer palliativen Versorgung führen müssen.
6 Sie können aber einer akuten (intensiv-)medizinischen bzw. -pflegerischen Versorgung bedürfen und/oder sollten je nach Behandlungsverlauf zumindest potenziell in der zukünftigen Versorgung mitbedacht werden, auch wenn sie im günstigsten Fall (erfolgreiche kurative Therapie) keine dauerhaft intensive sowie palliative Versorgung benötigen. Ein Vergleich der Daten mit weiteren aktuellen Studien ist aufgrund der unterschiedlichen Methodiken oder Zielsetzungen nicht möglich [
21,
22].
Zudem sind kleinere Unterschiede in der Kodierungspraxis zu berücksichtigen: In der Zusammenarbeit mit den Palliativmediziner:innen aus Deutschland gab es lediglich bei 5 % der Diagnosen divergierende Einschätzungen bezüglich des Ein- bzw. Ausschlusses von ICD-10-Codes in die aktuelle Prävalenzberechnung. Hierbei wurde auf der Basis von fachlich-medizinischen Einschätzungen über die Berücksichtigung dieser ICD-10-Codes entschieden.
Die in der Literatur und der Versorgungslandschaft verwendete Zahl von 50.000 basiert auf einer Hochrechnung, die allerdings unterschiedliche internationale Bevölkerungs- und Versorgungsmerkmale sowie Sterberaten nicht berücksichtigt. So zeigen Analysen, dass Deutschland eine rund 25 % geringere Kindersterblichkeit bei den unter 5‑Jährigen aufweist als Großbritannien [
23]. Diese unterschiedlichen Sterberaten und Bevölkerungsmerkmale wie der Anteil von Menschen aus Einwandererfamilien haben möglicherweise auch Einfluss auf unterschiedliche Prävalenzraten in der PraeKids-Studie und bei Fraser et al. [
11]. In England stieg die Prävalenz von 2013/2014 zu 2018 um ca. 17,7 %, in Deutschland von 2014 zu 2018 um ca. 9,2 % [
12]. Die Unterschiede lassen sich möglicherweise auch mit unterschiedlichen Kodierpraxen, länderspezifischen Abrechnungsmodalitäten und der Zunahme eines gewachsenen Wissensstandes bezüglich der Erkrankungen bei den kodierenden Ärzt:innen begründen.
Prävalenzwerte auf Grundlage der Daten von GKV-SV und InGef
Die Unterschiede in den errechneten Prävalenzwerten zwischen dem GKV-SV und InGef liegen an den abweichenden Falldefinitionen und kassenbedingten Unterschieden der Versichertengruppen. Entsprechend ist der niedrigere Prävalenzwert von InGef durch das differenziertere Einschlussverfahren begründet. Während hier nämlich mindestens eine stationär und/oder 2 ambulant gestellte Diagnosen in verschiedenen Quartalen des Erhebungszeitraums berücksichtigt wurden, war bei dem GKV-SV eine ambulante Diagnoseerfassung aus der Burgio-Jennessen-Liste ausreichend. Es war aufseiten des GKV-SV nicht möglich, die engeren Falldefinitionen an die von InGef anzugleichen, und wie bereits erläutert, konnten auch die dokumentierten stationären Fälle des GKV-SV aufgrund des fehlenden Merkmals in der Datenbank nicht berücksichtigt werden.
Durch den beschriebenen generellen Ausschluss des Geburtskalendertags 1 in der GKV-SV-Datenerhebung kann es zu Selektionseffekten kommen. Insbesondere Personen aus Einwandererfamilien werden nach Aussagen des Stabsbereichs Vertragsanalyse dadurch nicht im vollen Umfang erfasst. Die Ursache ist, dass im Rahmen des Aufnahmeprozesses das Geburtsdatum, falls es nicht bekannt oder dokumentiert ist, oft willkürlich auf den ersten Tag eines Monats gelegt wird. Für Personen aus Einwandererfamilien ist überdurchschnittlich oft der erste Monatstag als Geburtstag angegeben, wodurch sie vom Ausschluss des ersten Geburtskalendertags überproportional häufig betroffen sind.
7 Diese vom GKV-SV genannten möglichen Selektionseffekte wurden insofern für die PraeKids-Studie vernachlässigt, da es sich nicht um die Erhebung eines absoluten Prävalenzwertes handelt, sondern um die Festlegung einer Range. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass die minimalen Auswirkungen durch die Festlegung eines Prävalenzbereiches Berücksichtigung finden.
Bezüglich der onkologischen Prävalenz fällt der leichte Rückgang in den Jahren 2014–2019 auf. Das Deutsche Kinderkrebsregister meldet hier eine Zunahme der Erkrankungen von 2051 im Jahr 2013/2014 auf 2255 Erkrankungen im Jahr 2019 [
24]. Damit stehen diese Zahlen im Widerspruch zu den aktuell erhobenen onkologischen Prävalenzwerten durch InGef. Diese Datenunterschiede können zum einen damit in Zusammenhang stehen, dass im Kinderkrebsregister Jugendliche unter 18 Jahren erfasst werden, während die PraeKids-Daten entsprechend der britischen Studie Patient:innen bis einschließlich des 19. Lebensjahres berücksichtigen. Zum anderen zeigen die Werte aus den Jahren 2014–2019 überschneidende Konfidenzintervalle, sodass der beschriebene Rückgang statistisch betrachtet vernachlässigt werden kann.
Limitationen der Studie
Die ermittelten Prävalenzwerte weisen gewisse Limitationen auf. Sie basieren auf Abrechnungsdaten der dokumentierten stationären und ambulanten Diagnosen, die klinisch nicht überprüfbar und somit in ihrer Validität eingeschränkt sind [
25]. Die Festlegung auf ausgewählte ICD-10-Codes und damit die Auseinandersetzung mit Einzeldiagnosen, Diagnosegruppen, der entsprechenden Kategorisierung in lebensbedrohliche und lebensverkürzende Erkrankungen und der Zuordnung in die TfSL-Gruppen kann, wie bereits beschrieben, aus fachlicher Perspektive unterschiedlich erfolgen. Hier dienten die oben beschriebenen Rückkopplungsschleifen mit den kooperierenden Mediziner:innen einem Höchstmaß dialogischer Validität. Am Beispiel des ICD-10-Codes E74
„Sonstige Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels“ soll eine mit der Datengrundlage verbundene Herausforderung dargestellt werden. So wurde dieser Code mit in die Prävalenzberechnung einbezogen, da hereditäre Störungen des Galaktose- oder Fruktosestoffwechsels zu lebensbedrohlichen Krisen in der Neugeborenenperiode führen können [
26]. Eine eindeutige Abgrenzung dieser Diagnosen von beispielsweise der nicht lebensbedrohlichen intestinalen Fruktoseintoleranz kann auf Grundlage des ICD-10-Schlüssels nicht vorgenommen werden. Hier ermöglicht die ICD-10-Systematik – wie auch bei vielen seltenen Erkrankungen – keine weitere Differenzierung. Ein weiteres Beispiel für die Kodierungsimponderabilität stellt der Code J96 „Respiratorische Insuffizienz“ dar. Im Jahr 2020 fielen laut des GKV-SV auf
-
J96.0 „Akute respiratorische Insuffizienz, anderenorts nicht klassifiziert“ 4460 Diagnosen,
-
J96.1 „Chronische respiratorische Insuffizienz, anderenorts nicht klassifiziert“ 2392 Diagnosen,
-
J96.9 „Respiratorische Insuffizienz, nicht näher bezeichnet“ 6314 Diagnosen.
Auch hier ist eine differenzierte Auswertung nicht möglich. Ursachen sind Struktur und fehlende Differenziertheit der ICD-10 als klassifikatorisches Dokumentationssystem. Symptome, Syndrome und Krankheitsbilder können nicht segmentierter kategorisiert, sondern teils nur zusammenfassend erfasst werden [
27]. In Absprache mit den an der vorliegenden Untersuchung beteiligten Palliativmediziner:innen wurden trotz dieser Limitation die teils als durchaus kritisch zu bewertenden Codes mit in die Untersuchung aufgenommen.
Bezüglich der Diagnosestellung spielen auch die Abrechnungsmodalitäten über diagnosebezogene Fallgruppen (DRG) und das damit einhergehende Upcoding
8 hinsichtlich der Abrechnungsrelevanz und leistungsorientierten Vergütung eine Rolle. Hier kann es zu Überdokumentationen kommen, durch die die Hauptentlassungsdiagnose nicht als die ursächliche Indikation für den stationären Aufenthalt erfasst wird [
27]. Die geplante Digitalisierung abrechnungstechnisch relevanter Daten könnte dieses Problem zukünftig reduzieren.
Im Projekt PraeKids fanden Rückkopplungsschleifen mit Expert:innen statt. So wurden stichprobenartige Überprüfungen der Einstufungen in die TfSL-Gruppen nach der Gruppendiskussion erneut durch Mediziner:innen durchgeführt und auf Übereinstimmung geprüft. Die Ergebnisse wurden zudem durch einen erfahrenen Versorgungsforscher gesichtet, sodass insgesamt von einer hohen inhaltlichen Validität ausgegangen werden kann. Allerdings war eine Validitätsprüfung durch die Vergleiche von Stichproben im Rahmen einer internen und externen Validierung nicht möglich [
27].
Zudem muss bei der Einteilung in die TfSL-Gruppen berücksichtigt werden, dass einzelne Diagnosen im Krankheitsverlauf unterschiedlich zugeordnet werden können, d. h., ein zu Beginn lebensbedrohlicher Zustand (TfSL-1) kann in einen chronischen Restzustand (TfSL-4) übergehen. Des Weiteren ist bei den Ergebnissen zu konstatieren, dass eine einfache Angleichung an die Größe der Grundgesamtheit vorgenommen wurde und somit weitere Randbedingungen wie zusätzliche soziodemografische Verteilungseigenschaften in der Stichprobe sowie der Grundgesamtheit nicht beachtet wurden. Dies steht in Zusammenhang mit den zur Verfügung gestellten Daten. Die Sekundärdaten des GKV-SV und von InGef enthalten keine Informationen zu den Lebensbedingungen der Patient:innen. Diese werden teils nicht miterhoben bzw. können aufgrund von Datenschutzbestimmungen nicht genutzt werden.
Zudem wurden die vorliegenden Prävalenzzahlen aus Daten der GKV der unter 20-Jährigen errechnet. Die Zahlen der Privaten Krankenversicherung (PKV) blieben unberücksichtigt. Im Jahr 2020 waren 1,56 Mio. 0‑ bis 19-jährige Personen privat krankenversichert.
9 Da die Prävalenz auf Grundlage von ca. 13 Mio. GKV-Versicherten erhoben wurde, hat die Anzahl der PKV-Versicherten eine statistisch nur geringfügige Auswirkung auf die Prävalenz. Inwieweit es zu minimalen Verschiebungen des Prävalenzwertes aufgrund der beispielsweise sozioökonomischen Struktur der PKV-Versicherten kommen würde, wäre in Folgeuntersuchungen genauer zu betrachten [
20].
Des Weiteren können keine Aussagen über Entscheidungskriterien bei der klinischen Diagnosestellung und der Dokumentation gemacht werden, da die Erhebung mittels Sekundärdaten erfolgte, wobei von einer gewissen Varianz bezüglich der ambulanten und stationären Diagnosen ausgegangen werden kann [
28,
29]. Der ambulante Bereich kodiert quartalsweise, der stationäre Bereich dokumentiert die Aufnahme‑, Einweisungs- und Entlassungsdiagnosen. Für die Abrechnung erfolgt entsprechend bei der Entlassung die Feststellung einer Hauptdiagnose und fakultativer Nebendiagnosen [
30]. Es kann also von einer entsprechenden Varianz in der Diagnosestellung ausgegangen werden, die sich beispielsweise in unterschiedlichen Kodierungen zu Beginn der Aufnahme und der Entlassung des Kindes zeigen kann. Die daraus resultierenden Kodierungswechsel konnten in der Studie nicht berücksichtigt werden, da ausschließlich die Entlassungsdiagnose bzw. die zuletzt gestellte Diagnose aus dem Abrechnungsquartal einbezogen wurde.