2. Eigenständigkeit der Kriminologie
Die damit verknüpfte Folgefrage nach dem „Verbrechens“begriff in der Kriminologie lässt sich nicht in einem Satz beantworten. Vielmehr wird seit Langem darüber diskutiert, was als „Verbrechen“ und damit als Betrachtungsgegenstand der Kriminologie zu gelten hat. Eine eigenständige Begriffsbestimmung ist der Kriminologie dabei als eigenständiger Wissenschaft (Brettel
2022) nicht verwehrt. Entsprechend hat beispielsweise die Einordnung als Verbrechen, die in § 12 des Strafgesetzbuchs (StGB) vorgesehen ist (Verbrechen sind danach rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind), für die Kriminologie keine Verbindlichkeit.
Die Unabhängigkeit des kriminologischen Verbrechensbegriffs ist fachlich sogar von großer Bedeutung: Nicht zuletzt bliebe es der Kriminologie verwehrt, sich kritisch mit Haltungen des Gesetzgebers oder der Gesellschaft zur Strafbarkeit eines Verhaltens auseinandersetzen, wenn der Kriminologie ein Verbrechensbegriff (und damit ihr Gegenstandsbereich) vorgegeben würde. Für die dringend notwendige Tatsachenforschung im Zusammenhang mit der Grenze zwischen kriminell und nichtkriminell würde der Kriminologie dann die Zuständigkeit fehlen, obwohl sie gerade hier über Erfahrung und etablierte Forschungsmöglichkeiten verfügt.
Dabei gibt es häufig Kontroversen zu der Frage, ob das Gesetz Strafdrohungen ausspricht, die (im Rahmen einer Entkriminalisierung) aufgegeben werden sollten oder gesetzliche Strafdrohungen fehlen, die (im Wege der Kriminalisierung) einzuführen wären. Gerade das Beispiel der Prostitution zeigt, wie wichtig es ist, die Einordnung als Straftat durch den Gesetzgeber oder die Gesellschaft hinterfragen und sachlich analysieren zu können. Dieser Möglichkeit würde die Kriminologie mit der Kopplung an den Verbrechensbegriff einer anderen Disziplin beraubt. Insbesondere wäre die Einführung neuer Straftatbestände durch den Gesetzgeber einer Kontrolle entzogen, wenn ein formell-juristischer Verbrechensbegriff für die Kriminologie Verbindlichkeit hätte – damit wäre nicht zuletzt die dringend benötigte Tatsachen bzw. Evidenzbasierung von Reformdiskussionen gefährdet.
Und selbst wenn das Verbrechen (in Orientierung am juristischen Verbrechensbegriff) als strafrechtlich bestimmtes und damit als normenbezogenes Phänomen ins Zentrum der kriminologischen Forschung gestellt wird (Bock
2019), ist die Perspektive der Kriminologie eine eigene: Denn die Kriminologie erforscht – anders als etwa die Rechtswissenschaft – das vom Strafrecht bestimmte Phänomen als Gegenstand der sozialen Wirklichkeit.
Die Kriminologie ist als „Erfahrungs-“ bzw. „Wirklichkeits“wissenschaft (Göppinger
2008; s. a. Kaiser
1996) in Abgrenzung zur Rechtswissenschaft als dogmatischer Wissenschaft an Verbrechen als Tatsachenphänomen – am „Sein“ und nicht dem „Sollen“ – interessiert. Kriminologische Erkenntnisse müssen sich auf beobachtbare und intersubjektiv nachprüfbare Tatsachen beziehen und kriminologische Theorien sich Erfahrungsproben stellen (Bock
2019; Kaiser
1996).
Tatsachenkenntnisse sind aber gerade dann unverzichtbar, wenn es um die Einordnung als Verbrechen bzw. Straftat geht (über die ja gerade im Zusammenhang mit Prostitution aktuell lebhaft diskutiert wird, etwa Orth und Horten
2022). Denn ein Verhalten darf schon mit Blick auf die Konsequenzen nicht willkürlich als strafbar oder kriminell eingeordnet werden. Funktional und legitim ist dies vielmehr nur dann, wenn das fragliche Verhalten feststellbare Nachteile bewirkt. Denn unabhängig von Einzelheiten der Begriffsbestimmung lässt sich über Verbrechen jedenfalls sagen, dass damit ein unerwünschtes Verhalten gemeint ist, dem mit Ablehnung begegnet wird. Die ablehnende Reaktion wiederum bedarf ihrerseits einer Legitimation, die von vornherein nur dann in Betracht kommt, wenn das als Straftat gewertete Verhalten feststellbare Nachteile hat.
Deshalb streitet die Tatsachenorientierung der Kriminologie ebenfalls für einen eigenständigen kriminologischen Verbrechensbegriff. Denn als empirische Wissenschaft behauptet die Kriminologie auch im Hinblick auf die Einordnung von Verhaltensweisen als kriminell, strafbar oder verbrecherisch eine eigenständige fachliche Perspektive. Und gerade die Tatsachen, auf denen eine gesetzliche, gesellschaftliche oder anderweitige Einordnung als Verbrechen beruht, dürfen einer fachwissenschaftlichen Überprüfung nicht entzogen sein.
3. Kriminologische Verbrechensbegriffe und Prostitution
Deshalb wird der Begriff des Verbrechens in der Kriminologie unabhängig von den Festlegungen anderer Disziplinen diskutiert (Bock
2019). Zu den Definitionsvorschlägen dabei gehört der sogenannte natürliche Verbrechensbegriff, wonach „Verbrechen“ solche Verhaltensweisen sind, die zu allen Zeiten und in allen Kulturen als verwerflich – d. h. als schlecht, unmoralisch oder verdammenswert (Dudenredaktion
2020) – angesehen werden (Garofalo
1885). Beeinflusst ist diese Vorstellung von der Unterscheidung zwischen Delikten, die ihren Unwertgehalt in sich selbst tragen („delicta mala in se“) und Delikten, die (erst) durch ein Verbot zustande kommen („delicta mere prohibita“). Nur die erstgenannte Kategorie, das verhaltensimmanente Unrecht, unterfällt dem natürlichen Verbrechensbegriff, woraus ein sehr eng begrenzter Kreis von „Verbrechen“ resultiert.
Zu diesem Kernbereich krimineller Handlungen zählt nicht einmal die – aktuell zu den schwersten Unrechtsformen gehörende – vorsätzliche Tötung eines Menschen, weil dem Leben aller Menschen nicht in jeder Kultur und zu jeder Zeitepoche in der Hinsicht ein Wert zugesprochen wurde, dass eine Tötung stets unterschiedslos als verdammenswertes Verhalten galt (Canaan
1964). Auch das Anbieten von sexuellen Handlungen gegen Entgelt wurde und wird nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturen als verwerflich angesehen. Insbesondere steht in Deutschland heutzutage weder die Ausübung der Prostitution noch die Nachfrage nach entgeltlichen sexuellen Dienstleistungen unter Strafe. Zudem stellt § 1 des Prostitutionsgesetzes (ProstG) klar, dass sexuelle Handlungen, die gegen ein vorher vereinbartes Entgelt vorgenommen werden, Gegenstand einer rechtswirksamen Forderung sein können. Dass überdies in anderen Ländern wie beispielsweise Schweden oder Dänemark die Ausübung der Prostitution nicht strafbar ist (Cho et al.
2013), spricht ebenfalls gegen ein Verhalten, das zu allen Zeiten und in allen Kulturen als verwerflich angesehen wird. Denn der natürliche Verbrechensbegriff bezieht sich zwar (nur) auf den Kernbereich krimineller Handlungen und ist damit keinesfalls deckungsgleich mit den gesetzlichen Verbrechensbestimmungen (die über diesen Kernbereich hinausgehen). Umgekehrt ist aber die Berücksichtigung des kriminellen Kernbereichs im Strafgesetz zu erwarten, weil der Rechtsordnung die Benennung von Verhaltensweisen obliegt, die im Interesse des Rechtsfriedens unter Strafandrohung zu verbieten sind (BVerfGE 51, 324, 343; 88, 203, 257). Dabei ist das Strafrecht ein letztes Mittel der Sozialkontrolle (Kindhäuser
2017), das von vornherein nur bei kriminellem Unrecht als der gravierendsten Form von Normverstößen zum Einsatz kommen soll. Mit dem natürlichen Verbrechensbegriff ist die Einordnung der Prostitution als Verbrechen somit nicht vereinbar.
Weil die Ausübung der Prostitution in Deutschland nicht strafbar ist, stellt sie auch kein Verbrechen im Sinne des sogenannten juristischen Verbrechensbegriffs – einem anderen Definitionsvorschlag in der Kriminologie – dar. Denn Verbrechen ist nach der „juristischen“ Begriffsbestimmung ein Verhalten, das im Gesetz als strafbar bezeichnet wird. Dies aber trifft weder für die Ausübung der Prostitution noch für die Nachfrage nach entgeltlichen sexuellen Dienstleistungen zu; beides stellt das Gesetz grundsätzlich nicht unter Strafe.
Allerdings können sich bei Erfüllung zusätzlicher Bedingungen verschiedene Personengruppen im Zusammenhang mit entgeltlichen sexuellen Handlungen strafbar machen (Renzikowski
2023, abgedruckt im selben Heft). Dies gilt z. B. nach den §§ 184 f, 184 g StGB für in der Prostitution tätige Personen, wenn sie Prostitution außerhalb zugewiesener Orte und Zeiten ausüben. Auch ist Freiern unter Strafdrohung untersagt, entgeltliche sexuelle Dienstleistungen von Zwangsprostituierten (§ 232 a Abs. 6 StGB) oder – als volljährige Freier – von minderjährigen Personen (§ 182 Abs. 2 StGB) in Anspruch zu nehmen. Überdies sind Strafen für unzulässige Einflussnahmen auf die Ausübung der Prostitution (etwa in Form der „Zuhälterei“, § 181 a StGB) bzw. für den „Menschenhandel“ (§ 232 StGB) vorgesehen. Nur diese strafbaren Verhaltensweisen zählen nach dem juristischen Verbrechensbegriff zu den Verbrechen und damit zum Gegenstandsbereich der Kriminologie.
Eine andere Auffassung von dem, was Verbrechen und damit Gegenstandsbereich der Kriminologie ist, wird unter der Bezeichnung „rechtsgutsbezogener“ Verbrechensbegriff diskutiert. Dieser Definitionsvorschlag charakterisiert Verbrechen als Handlungen, die in strafwürdiger Weise Rechtsgüter verletzen (Birnbaum
1834) und verlagert die Diskussion damit auf den Begriff des Rechtsguts. Er ist ebenfalls umstritten, im Kern aber auf Lebensgüter, Sozialwerte und rechtlich anerkannte Interessen zu beziehen, die wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Gesellschaft Rechtsschutz genießen (Wessels et al.
2022). Verhaltensweisen im Zusammenhang mit entgeltlichen sexuellen Dienstleistungen müssen also besonders geschützte Güter, Werte oder Interessen verletzen, um Verbrechen nach der rechtsgutsbezogenen Begriffsbestimmung zu sein. Im Sinne des sogenannten soziologischen Verbrechensbegriffs – dem Letzten der hier berücksichtigten Definitionsvorschläge – ist hingegen danach zu fragen, ob ein Verhalten sozialschädlich ist (Meier
2021).
Beides, Rechtsgutsverletzung und Sozialschädlichkeit, lässt sich auch mit Prostitution in Verbindung bringen. So verletzt ohne Zweifel Rechtsgüter und verursacht – etwa durch Ausbeutung, Jugendgefährdungen oder Belästigungen – soziale Schäden (Renzikowski
2023, im gleichen Heft; BVerfG, Beschl. v. 28.04.2009 – 1 BvR 224/07), was derzeit im Zusammenhang mit entgeltlichen sexuellen Handlungen unter Strafe steht und damit Verbrechen im Sinne der juristischen Begriffsbestimmung (s. oben) ist (zu Einzelheiten: Renzikowski
2023, abgedruckt im selben Heft). Aber auch für das Anbieten oder die Inanspruchnahme von sexuellen Handlungen gegen Entgelt finden sich aus rechtsgutsbezogener und soziologischer Perspektive eher als beim „natürlichen“ und „juristischen“ Verbrechensbegriff Ansatzpunkte für eine Einordnung als Verbrechen. Sie ergeben sich in Deutschland insbesondere im Hinblick auf die sexuelle Selbstbestimmung, die als Ausprägung des – durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes garantierten – allgemeinen Persönlichkeitsrechts und als Rechtsgut anerkannt ist (Hörnle
2015). Ob dieses Rechtsgut im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen gegen Entgelt in sozialschädlicher Weise verletzt wird, hängt v. a. davon ab, inwieweit das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung in diesem Kontext frei und unbeeinflusst ausgeübt wird.
Die Anbieter von sexuellen Leistungen scheiden dabei von vornherein als Täterinnen bzw. Täter einer Straftat aus. Denn um ihr eigenes Recht auf sexuelle Selbstbestimmung geht es; sie sind Träger dieses Rechtsguts. Treffen die Anbieterinnen bzw. Anbieter von sexuellen Leistungen also eine selbstbestimmte, freie Entscheidung, dann kommt von vornherein keine Rechtsgutsverletzung und damit auch keine Straftat in Betracht. Ist die Entscheidung jedoch unfrei, dann zählen die in der Prostitution tätigen Personen zu den Verletzten (und nicht zum Täterkreis). Eine Bestrafung der Ausübung von sexuellen Handlungen gegen Entgelt kommt somit aus Perspektive der sexuellen Selbstbestimmung von vornherein nicht in Betracht, sondern müsste auf andere, allgemein anerkannte Rechtsgüter zurückgeführt werden, deren konkrete Verletzung bzw. Gefährdung es tatsachenbasiert nachzuweisen gilt.
„Freier“ hingegen können aus dieser Perspektive ohne Weiteres zum Täterkreis gehören: Zwar liegt auch in der Inanspruchnahme von sexuellen Handlungen eine Ausübung des eigenen, sexuellen Selbstbestimmungsrechts. Dessen Verletzung steht allerdings nicht in Rede, weil eine unfreie, erzwungene Entscheidung zur Inanspruchnahme von sexuellen Handlungen gegen Entgelt kaum relevant sein dürfte (und dann ohnehin unter dem Schutz von strafrechtlichen Normen steht). „Freier“ tragen aber möglicherweise zur (sexuellen) Unfreiheit von Anbietern entgeltlicher Sexualhandlungen und damit zu sozialschädlichen Rechtsgutsverletzungen bei – was eben von den Freiheitsgraden beim Umgang mit kommerzialisierter Sexualität abhängt.
Damit ist (auch) für die Kriminologie v. a. der Verbrechenscharakter einer Inanspruchnahme von sexuellen Leistungen fraglich. Zugleich können – als Ertrag der Auseinandersetzung mit den Verbrechensbegriffen in der Kriminologie – die neuralgischen Punkte der Zuordnungsproblematik konkret benannt werden: Die Inanspruchnahme von sexuellen Handlungen gegen Entgelt als „Verbrechen“ einzustufen, kommt nach dem natürlichen Verbrechensbegriff von vornherein nicht in Betracht (s. oben). Eine Kriminalisierung nach dem juristischen Verbrechensbegriff obliegt dem Gesetzgeber. Dessen Entscheidung kann und sollte allerdings (auch) am rechtsgutsbezogenen und soziologischen Verbrechensbegriff gemessen werden. So ist bei einer Einstufung nach dem rechtsgutsbezogenen Verbrechensbegriff das zu schützende Rechtsgut konkret zu bezeichnen. Beim soziologischen Verbrechensbegriff wiederum kommt es auf die Feststellung des sozialen Schadens an, der Grundlage für die Einordnung von Prostitution als Verbrechen sein soll. Im Kern der Auseinandersetzung um die Freierstrafbarkeit sind damit zwei kriminologisch relevante Fragen auszumachen, auf die es momentan keine allgemein konsentierten Antworten gibt: Welches Rechtsgut wird mit einer Freierstrafbarkeit geschützt? Und: Welchen sozialen Schaden richtet die Inanspruchnahme von sexuellen Dienstleistungen an?
Auch dazu vermag die Kriminologie jeweils Beiträge zu leisten, indem sie sich um die Aufklärung relevanter Tatsachen bemüht. Dabei besteht einiger Nachholbedarf. Benötigt werden beispielsweise weitergehende Kenntnisse über den lebensbiografischen Kontext, in dem die Anbieter von sexuellen Leistungen tätig sind. Nicht zuletzt ist eine Beurteilung von Freiverantwortlichkeit beim Anbieten sexueller Leistungen im Sinne einer freien und unbeeinflussten Ausübung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts nur in Kenntnis der maßgeblichen Verhaltensbedingungen möglich.
Zugleich ist Freiverantwortlichkeit eine Kategorie, die in anderen Zusammenhängen seit Langem intensiv beforscht wird. Darum geht es z. B. bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit nach den §§ 20, 21 StGB ebenso wie bei einer Abgrenzung zwischen (straffreier) Selbsttötung und (strafbewehrter) Fremdtötung im Bereich der Suizidbeihilfe. Und gerade die forensischen Disziplinen, zu denen neben der Psychiatrie und der Psychologie auch die Kriminologie gehört (Brettel
2022), sind hauptzuständig für die Befassung mit wesentlichen Aspekten der Freiverantwortlichkeit, etwa wenn es um die Auswirkungen von psychischen oder sozialen Entscheidungsdeterminanten geht. Ebenso wie Psychiatrie und Psychologie dürfte damit auch die Kriminologie Entscheidendes zu der Frage beitragen können, ob dem Anbieten von sexuellen Leistungen gegen Entgelt eine freie Entscheidung in selbstbestimmter Ausübung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugrunde liegt. Diese Frage stellt sich im Übrigen auch bei anderen Tätigkeiten, die – wie etwa die Wanderarbeit auf Baustellen oder die Saisonarbeit auf Spargelfeldern – mit der Gefahr von restriktiven Bedingungen der freien Willensbildung verbunden sein können.
Gleichzeitig hat der Aspekt der Freiverantwortlichkeit viele Facetten. Dazu gehören beispielsweise die Maßstäbe für die Feststellung von Freiverantwortlichkeit ebenso wie die grundsätzliche Befähigung zum Freiheitsgebrauch oder die Freiheit von Willensmängeln. Jeweils wird dazu bereits intensiv geforscht, so beispielsweise zu der Frage, wie die Freiverantwortlichkeit einer Selbsttötung zu bestimmen ist. Vertreter der sogenannten Exkulpationslösung orientieren sich dabei an den Regeln der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (§§ 20, 21 StGB, 3 Jugendgerichtsgesetz [JGG]), während die sogenannte Einwilligungslösung einen erheblich strengeren Maßstab anlegt und eine Freiverantwortlichkeit nicht erst verneint, wenn sich der Betroffene in einem der in § 20 StGB genannten psychischen Ausnahmezustände befindet. Vielmehr habe eine freiverantwortliche Entscheidung nach dieser Ansicht insbesondere frei von Willensmängeln als Folge einer Täuschung, Drohung oder Zwangseinwirkung zu sein. Wer entscheidet, müsse die Konsequenzen seiner Entscheidung sachgerecht einschätzen können, was insbesondere eine Kenntnis der entscheidungsrelevanten Informationen voraussetze. Sobald eine Entscheidung hingegen irrtümlich oder unter Zwang zustande gekommen ist, bleibt nach der „Einwilligungslösung“ ebenso wenig Raum für eine freiverantwortliche Entscheidung wie bei einer Beeinflussung durch eine Augenblicksstimmung. Über diese und zahlreiche weitere Aspekte lässt sich auch im Zusammenhang mit der Freiverantwortlichkeit bei Ausübung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts diskutieren. Nach den Maßstäben der Einwilligungslösung ist beispielsweise nicht von einer Freiverantwortlichkeit bei der Ausübung von sexueller Selbstbestimmung auszugehen, wenn die Entscheidung für das Anbieten von sexuellen Handlungen gegen Entgelt nach Vorenthalten von relevanten Informationen getroffen wurde. In den Kontext der Freiverantwortlichkeit bei der Ausübung von sexuellen Handlungen gegen Entgelt lässt sich zudem einordnen, dass der Gesetzgeber in den §§ 3 Abs. 1, 7 Abs. 2 des Gesetzes zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (Prostituiertenschutzgesetz, ProstSchG) von der zuständigen Behörde verlangt, bei Anmeldung einer Prostitutionstätigkeit ein Informations- und Beratungsgespräch durchzuführen. Bei der Diskussion über die Aspekte der Freiverantwortlichkeit ist jedenfalls von Nutzen, dass diese ein ubiquitäres Problem darstellt, zu dem bereits vieles ausgearbeitet wurde und ein aktueller Forschungsstand benannt werden kann.
4. Verbrechen als Zuschreibung
Gleichzeitig wird im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verbrechenscharakter von prostitutionsbezogenen Verhaltensweisen einmal mehr deutlich, dass die Einordnung eines Verhaltens als Straftat, Verbrechen oder Unrecht – wie sie etwa für die Nachfrage nach entgeltlichen sexuellen Dienstleistungen diskutiert wird – eine Zuschreibung ist. Eine solche Zuschreibung kann zwar ihrerseits Tatsachen hervorbringen (wie z. B. den Umstand einer Bestrafung). Sie selbst verkörpert aber keine vorfindbare Tatsache, wie dies bei anderen Merkmalen von Verhaltensweisen (etwa der optischen Wahrnehmbarkeit einer Handbewegung) der Fall ist. Relevant ist dies v. a., weil die Einordnung eines Verhaltens als Straftat am Tatsachengehalt dieses Verhaltens selbst nichts ändert. Dem gleichen Tatsachenvorgang wird (lediglich) eine bestimmte soziale Bedeutung zugeschrieben, die Auswirkungen für die Beteiligten (wie etwa strafrechtliche Konsequenzen) haben kann, das Verhalten selbst als Realphänomen aber unberührt lässt.
Deshalb verdienen in der Diskussion über die Einordnung eines Verhaltens als kriminell, strafbar oder Verbrechen v. a. die Konsequenzen dieser Zuschreibung selbst Aufmerksamkeit. Darüber lässt sich ganz allgemein sagen, dass solche Zuschreibungen ausschließlich über Verhaltensänderungen der Akteure Wirkungen erzielen können. Selbst greift die Einstufung als kriminell nicht unmittelbar in die Realität ein, sondern manifestiert sich (allenfalls) über Bewusstseins- und Verhaltensänderungen von Beteiligten. Was dabei eine Rolle spielt, ist (ebenfalls) seit Langem kriminologischer Betrachtungsgegenstand. Ein Modell für die dabei maßgeblichen Mechanismen liegt beispielsweise mit dem sogenannten Rational-Choice-Ansatz (Becker
1968) vor, wonach menschliche Entscheidungen am Verhältnis von Kosten und erwartetem Nutzen orientiert sind. Was im Saldo der Vor- und Nachteile den größten – subjektiv definierten – Nutzen erwarten lässt, wird mit der größten Wahrscheinlichkeit umgesetzt. Über dieses Erklärungsmodell für Verhalten im Allgemeinen und Delinquenz im Besonderen lassen sich – unter Berücksichtigung der maßgeblichen Determinanten wie etwa dem Wissenstand oder dem Präferenzsystem einer Person – auch Aussagen über die Wirkung einer Freierstrafbarkeit gewinnen. Denn auch die Entscheidung für das Anbieten oder die Inanspruchnahme von sexuellen Handlungen gegen Entgelt lässt sich als Folge der Erwartung interpretieren, dass individuelle Kosten niedriger sind als der subjektiv erwartete Nutzen.
Weil allerdings Entscheidungen ganz offensichtlich nicht nur auf Grundlage einer rationalen Abwägung getroffen werden, bietet sich – um ein weiteres Beispiel zu nennen – auch ein Rückgriff auf die „Dual-Process-Theorien“ an, die ein Nebeneinander von bewusst-rationalen und unbewusst-erfahrungsbasierten Entscheidungsmodi postulieren (etwa Kroneberg
2011; Bock
2019). Danach wird insbesondere in vertraut erscheinenden Situationen der Aufwand einer bewussten Entscheidung vermieden und eher auf unbewusste Routinen zurückgegriffen, was ebenfalls bei der Inanspruchnahme von sexuellen Handlungen gegen Entgelt von Bedeutung sein kann. Je mehr etwa diese Inanspruchnahme zur Routine wird, desto eher fußt die Entscheidung dafür auf unbewussten anstelle von bewusst-rationalen Impulsen. Dabei liefern die Dual-Process-Theorien ebenso wie das Rational-Choice-Modell (die hier nur stellvertretend für weitere nutzbare Konzepte angesprochen werden) nicht nur Ansätze für die Erklärung, sondern auch für die Beeinflussung von Verhalten. Beispielsweise verspricht die gezielte Erhöhung von Kosten eines unerwünschten Verhaltens präventive Wirkungen, weil sich das Saldo der Vor- und Nachteile damit zuungunsten dieser Verhaltensoption verschiebt.