PB als „unpersönliches“ moralisches Prinzip
PB stellt das Wohlergehen des zukünftigen Kindes in den Mittelpunkt. Allerdings handelt es sich bei der moralischen Pflicht, die PB postuliert, nicht einfach um einen Spezialfall vertrauter Wohltunspflichten, die aus einem übergeordneten Wohltunsprinzip abgeleitet werden könnten. Das liegt nicht in erster Linie daran, dass die Kinder, um deren Wohlergehen es geht, zum Zeitpunkt der Handlungen, die PB fordert, noch nicht existieren. Wohltuns- und Nichtschädigungspflichten beziehen sich zwar typischerweise auf existierende Personen, können sich aber auch auf zukünftige Personen beziehen, wenn die Wirkung einer Handlung erst in der Zukunft eintritt. Solange sich retrospektiv ein konkretes Individuum identifizieren lässt, dessen Wohlergehen durch die fragliche Handlung gefördert oder beeinträchtigt worden ist, und solange diese Wirkung für den Handelnden vorhersehbar war und ihm daher zugerechnet werden kann, lassen sich auch Wohltuns- und Nichtschädigungspflichten im Blick auf zukünftige Personen als Pflichten
gegenüber diesen Personen verstehen. Ein Beispiel ist die Einnahme von Folsäure: Wenn sich Neuralrohrdefekte am besten dadurch vermeiden lassen, dass Frauen mit Kinderwunsch schon
vor der Schwangerschaft Folsäure einnehmen (weil sich erst ein entsprechender Spiegel im Blut aufbauen muss), scheint es nicht abwegig, Frauen mit Kinderwunsch eine (schwache) moralische Pflicht zur prophylaktischen Einnahme von Folsäure gegenüber ihrem zukünftigen Kind zuzuschreiben, auch wenn dieses Kind zum Zeitpunkt der Handlung noch nicht einmal als Embryo existiert.
9 Denn die Einnahme von Folsäure wird – sofern sich überhaupt eine Schwangerschaft einstellt – einem
bestimmten Kind zugutekommen, das ohne die Einnahme von Folsäure möglicherweise mit einem offenen Rücken oder anderen schweren Beeinträchtigungen leben müsste. (Ob der moralischen Pflicht der Frau ein Recht des zukünftigen Kindes korrespondiert, ist eine andere Frage; vgl. zum Problem der Rechte zukünftiger Kinder den Beitrag von Dagmar Schmitz und Marcus Düwell in diesem Heft (Schmitz und Düwell
2021)).
Bei den Situationen, für die PB gelten soll, ist das anders. Wenn angehende Eltern sich entscheiden, eine PID in Anspruch zu nehmen, dann geht es nicht darum, eine Krankheit oder Behinderung bei einem bestimmten Kind zu vermeiden, sondern zu verhindern, dass ein krankes Kind zur Welt kommt, bzw. sicherzustellen, dass ein gesundes Kind zur Welt kommt. Die Entscheidung zur PID würde dem Kind, dessen Existenz verhindert wird, daher nur dann zugutekommen, wenn es für das Kind selbst besser wäre, nicht zur Welt zu kommen – eine Annahme, die gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch ist: Zunächst kann man fragen, ob Aussagen der Form „Es wäre besser für X, nicht zur Existenz zu gelangen“ überhaupt sinnvoll sind. Wenn X nicht existiert, kann nämlich auch nichts gut oder schlecht für X sein; es ist also unklar, was in solchen Aussagen miteinander verglichen wird. Einige Autoren bestreiten deswegen, dass man Existenz und Nicht-Existenz sinnvoll vergleichen kann (vgl. Heyd
1992,
2009). Aber auch diejenigen, die Aussagen der Form „Es wäre besser für X, nicht zur Existenz zu gelangen“ grundsätzlich für sinnvoll halten (z. B. weil sie sie als Aussagen über rationale Präferenzen lesen; vgl. Feinberg
1986, S. 158 f.), gehen in der Regel davon aus, dass solche Aussagen nur selten gerechtfertigt sind. Die meisten nehmen an, dass auch ein Leben mit schweren genetisch bedingten Krankheiten normalerweise lebenswert ist, und dass man nur in sehr wenigen, extremen Fällen plausiblerweise annehmen kann, im Interesse des Kindes zu handeln, wenn man seine Existenz verhindert (vgl. Feinberg
1986, S. 159; Glover
2006, S. 59 f.). Dass eine PID dem Kind, dessen Existenz dadurch verhindert wird, zugutekommt, dürfte daher – wenn es sich dabei überhaupt um eine kohärente Vorstellung handelt – die Ausnahme sein.
PB erhebt jedoch gar nicht den Anspruch, auf das Wohlergehen eines bestimmten Kindes zu zielen. Der „gewichtige moralische Grund“, den PB postuliert, ist kein klassischer, personenbezogener moralischer Grund, sondern ein „unpersönlicher“ Grund: „PB is
not concerned with benefits or harms to the child produced. It is a claim about it being better to bring into existence a child without disability as opposed to a severely disabled child – because this would make for a better world, in an impersonal sense. This has been called an impersonal reason“ (Savulescu und Kahane
2017, S. 610).
Mit dem Ausdruck „unpersönlicher Grund“ spielen Savulescu und Kahane auf die Debatte um das Nicht-Identitäts-Problem und Derek Parfits (tentativen) Lösungsansatz für dieses Problem an. Parfit hat in den siebziger und achtziger Jahren an einer Reihe von Beispielfällen zu zeigen versucht, dass sich unser klassisches, personenbezogenes Wohltunsprinzip nicht auf Situationen anwenden lässt, in denen Handlungen, die das Wohlergehen zukünftiger Personen beeinflussen, zugleich Einfluss auf die Identität dieser Personen haben (vgl. Parfit
1976,
1984). Wenn wir in solchen Situationen zu plausiblen moralischen Urteilen gelangen wollen, müssen wir nach Parfit die „personenbezogene Beschränkung“ (
person-affecting restriction) aufgeben, nach der derjenige Teil der Moral, der es mit menschlichem Wohlergehen zu tun hat, vollständig unter Bezug auf das, was gut oder schlecht für die von unseren Handlungen betroffenen Personen ist, erklärt werden sollte (vgl. Parfit
1984, S. 394).
10 Als provisorische Alternative zu unserem klassischen, personenbezogenen Wohltunsprinzip hat Parfit in
Reasons and Persons den „Same Number Quality Claim“ (kurz Q) vorgeschlagen: „If in either of two outcomes the same number of people would ever live, it would be bad if those who live are worse off, or have a lower quality of life, than those who would have lived“ (Parfit
1984, S. 359). Prinzipien wie Q, die voraussetzen, dass ein Handlungsergebnis schlecht sein kann, ohne schlecht
für irgendjemanden zu sein, werden in der Debatte um das Nicht-Identitäts-Prinzip als
unpersönliche Prinzipien bezeichnet (vgl. Parfit
1984, S. 385,
2017, S. 123 f.).
In der seit mehr als vierzig Jahren geführten Debatte um das Nicht-Identitäts-Problem sind zahlreiche Lösungsvorschläge formuliert und diskutiert worden (für einen Überblick vgl. Boonin
2014; Roberts
2021). Viele Autorinnen und Autoren haben zu zeigen versucht, dass man die „falsche“ Entscheidung in Nicht-Identitäts-Fällen (oder zumindest in einem Teil der von Parfit konstruierten Fälle) moralisch kritisieren kann, ohne auf unpersönliche Prinzipien wie Q zurückzugreifen (vgl. u. a. Woodward
1986; Hanser
1990; Kumar
2003; Harman
2004; Roberts
2007; Velleman
2008). Auf eine verbreitete Strategie, nach der die „falsche“ Entscheidung den betroffenen Personen in Nicht-Identitäts-Fällen zwar nicht schadet (jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sie als Folge dieser Entscheidung schlechter dran sind, als sie es sonst wären), ihnen aber trotzdem Unrecht tut, werde ich im nächsten Abschnitt noch zurückkommen. An dieser Stelle möchte ich mich mit zwei Hinweisen begnügen, die für die Interpretation und Diskussion von PB relevant sind. Der erste bezieht sich auf den Ausdruck „unpersönlich“ in der Rede von „unpersönlichen Gründen“ und „unpersönlichen Pflichten“. „Unpersönlich“ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht „unabhängig von Personen und ihrem Wohlergehen“. Solange es um Wohlergehen geht, geht es auch um Personen (oder zumindest um empfindungsfähige Wesen), denn Wohlergehen existiert nicht freischwebend, sondern ist immer
jemandes Wohlergehen. Der Ausdruck „unpersönlich“ ist daher potenziell irreführend; da er sich in der Debatte durchgesetzt hat und es keinen überzeugenden alternativen Ausdruck gibt, werde ich ihn jedoch trotzdem weiter verwenden.
Der zweite Punkt betrifft die Deutung des unpersönlichen „Besserseins“. Savulescu und Kahane nehmen dazu auf Weltzustände Bezug: Handlungen, die besser sind, ohne besser für jemanden zu sein, sind besser, weil die Welt dadurch besser wird. Diese Deutung setzt jedoch bereits voraus, dass sich die moralische Bewertung von Handlungen an ihren Auswirkungen auf die Welt als Ganze (statt z. B. auf einen Teilbereich der Welt, für den der oder die Handelnde eine besondere Verantwortung trägt) orientiert, und ist daher nicht unbedingt zwingend. Wenn man die Frage diskutieren will, ob unpersönliche Erwägungen bei Fortpflanzungsentscheidungen überhaupt eine Rolle spielen sollten, ist es sinnvoll, die Frage nach der angemessenen Deutung des unpersönlichen „Besserseins“ zunächst offen zu lassen. Ich schlage daher vor, auf das zusätzliche „weil“ („because this would make for a better world“) zu verzichten und einfach davon zu sprechen, dass es besser ist, wenn statt eines Kindes, dem es voraussichtlich weniger gut gehen wird, ein anderes Kind zur Welt kommen wird, dem es voraussichtlich besser gehen wird. Diese Formulierung hat den Vorteil, dass sie die Unterscheidung zwischen personenbezogenen und unpersönlichen Gründen wahrt (es geht nicht um dasselbe, sondern um ein anderes Kind), ohne ein spezifisches Verständnis unpersönlicher Gründe nahezulegen. Die PID zur Vermeidung von genetisch bedingten Krankheiten würde dann aus Sicht der Verfechterinnen und Verfechter unpersönlicher Gründe auf der Überlegung beruhen, dass es besser ist, wenn statt eines Kindes, das durch Krankheit in seinem Wohlergehen beeinträchtigt ist, ein anderes, gesundes Kind zur Welt kommt.
Unpersönliche Gründe und die Frage nach dem angemessenen Verständnis reproduktiver Verantwortung
Die Einschätzung und Beurteilung von PB als Prinzip der reproduktiven Ethik hängt nach den vorangegangenen Überlegungen wesentlich davon ab, wie man zu der Frage nach unpersönlichen Gründen und unpersönlichen Pflichten steht. In der Debatte über PB und das Nicht-Identitäts-Problem gibt es Autorinnen und Autoren, die die normative Relevanz unpersönlicher Erwägungen grundsätzlich bestreiten (Bennett
2009; Heyd
2009). Andere Autoren ziehen die Existenz unpersönlicher Gründe und Pflichten nicht
per se in Zweifel, machen jedoch geltend, dass es bei Fragen der Fortpflanzung und Familiengründung nicht um allgemeine moralische Pflichten geht, sondern um die spezifische Verantwortung angehender Eltern gegenüber ihren zukünftigen Kindern (Wasserman
2005; Herissone-Kelly
2006,
2017). David Wasserman (
2005, S. 135) plädiert dafür, das Nicht-Identitäts-Problem und die verschiedenen Lösungsvorschläge dafür im Zusammenhang mit der Rollenmoral angehender Eltern zu diskutieren. Aus seiner Sicht wäre es problematisch, die Rolle des Erzeugers (
progenitor) von der eigentlichen Elternrolle zu trennen (Wasserman
2005, S. 142). Peter Herissone-Kelly hat ein Argument gegen PB entwickelt, dass auf der Unterscheidung zwischen einer „internen“ und einer „externen“ Perspektive auf das Leben zukünftiger Personen basiert. Wenn angehende Eltern über das Leben ihrer möglichen zukünftigen Kinder nachdenken, sollten sie nach Herissone-Kelly eine interne Perspektive einnehmen, d. h. eine Perspektive, bei der sie sich mit jedem einzelnen möglichen zukünftigen Kind so eng identifizieren, dass ein nachträgliches Zurücktreten und ein Vergleich zwischen den Leben der verschiedenen möglichen zukünftigen Kinder ausgeschlossen ist (Herissone-Kelly
2006,
2017).
Man kann die Ausführungen von Wasserman und Herissone-Kelly als Plädoyer dafür lesen, reproduktive Verantwortung als einen integralen Aspekt elterlicher Verantwortung zu begreifen. Reproduktive Verantwortung bezieht sich auf reproduktive Entscheidungen, d. h. auf Entscheidungen über das „Ob“, „Wann“, „Mit wem“ und „Wie“ der Fortpflanzung. Fortpflanzung und Elternschaft gehören jedoch zusammen; wer wissentlich und absichtlich ein Kind zeugt bzw. zur Welt bringt, trägt damit automatisch elterliche Verantwortung für dieses Kind.
11 Es liegt daher nahe, reproduktive Verantwortung von vornherein auf elterliche Verantwortung zu beziehen und damit – ebenso wie elterliche Verantwortung – als personenbezogene Verantwortung zu konzeptualisieren. Das entspricht (zumindest auf den ersten Blick) auch der Art und Weise, wie wir reproduktive Verantwortung im Alltag verstehen: Angehende Eltern sorgen sich um ihr zukünftiges Kind, aber sie stellen im Normalfall keine vergleichenden Betrachtungen über das Wohlergehen oder die Lebensqualität möglicher zukünftiger Kinder an.
12 Die Grundidee von Herissone-Kelly und Wasserman aufgreifend, könnte man sagen, dass der Gedanke „Es wäre besser, wenn statt eines kranken Kindes ein anderes, gesundes Kind zur Welt kommt“ zur Rolle von Reproduktionsmedizinerinnen und Reproduktionsmedizinern passen mag, die nicht nur am konkreten Wohlergehen ihrer Patientinnen und Patienten interessiert sind, sondern (möglicherweise) auch am „Ergebnis“ ihrer Tätigkeit, aber nicht zur Rolle von angehenden Eltern. Paare mit Kinderwunsch – so die Idee – sollten keine vergleichende Perspektive auf ihre möglichen zukünftigen Kinder einnehmen, sondern immer nur an
das Kind denken, dass sie tatsächlich bekommen werden bzw. über dessen Existenz oder Nicht-Existenz sie entscheiden müssen. Reproduktive Verantwortung wäre nach diesen Überlegungen eine Form von Verantwortung, die unpersönliche Erwägungen systematisch ausblendet.
Natürlich drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, wie sich personenbezogene reproduktive Pflichten überhaupt denken lassen, wenn Entscheidungen über die Zeugung – und damit über die Existenz oder Nicht-Existenz – eines Kindes (von extremen Fällen möglicherweise einmal abgesehen) nicht besser oder schlechter für das Kind sein können. Tatsächlich setzt die Idee einer personenbezogenen reproduktiven Verantwortung eine leicht erweiterte Verwendung des Begriffs „personenbezogen“ voraus. Nach Parfit ist ein moralisches Prinzip personenbezogen, wenn es das Falschsein einer Handlung darauf zurückführt, dass die Handlung bzw. ihr Ergebnis schlechter für die davon betroffenen Personen ist als die möglichen Alternativen (und unpersönlich, wenn es das nicht tut). So lange man sich – wie es Parfit in den entsprechenden Passagen von Reasons and Persons tut – auf die Frage nach der Struktur von Wohltuns- bzw. Nichtschädigungsprinzipien konzentriert (und annimmt, dass eine Handlung einer Person schadet, wenn es ihr als Folge der Handlung schlechter geht, als es ihr sonst gehen würde), ist es plausibel, den Ausdruck „personenbezogen“ in der skizzierten Weise zu verwenden. Deontologische Moraltheorien gehen jedoch typischerweise davon aus, dass Pflichten gegenüber anderen Personen sich nicht auf Wohltuns- bzw. Nichtschädigungspflichten reduzieren lassen (und dass „schädigen“ nicht notwendig „alles in allem schlechter stellen“ bedeuten muss). Wenn man die Unterscheidung „personenbezogen/unpersönlich“ auf ein weiteres Spektrum von Moraltheorien und die von ihnen postulierten Pflichten anwenden will, scheint es daher naheliegend, alle Prinzipien als personenbezogen zu bezeichnen, die das Falschsein einer Handlung darauf zurückführen, dass die Handlung für die davon betroffenen Personen schlechter als die möglichen Alternativen ist oder diesen Personen in anderer Weise Unrecht tut (und alle Prinzipien, die das nicht tun, als unpersönlich).
Um die Idee einer personenbezogenen reproduktiven Verantwortung weiter auszufüllen, müsste man also zeigen, dass angehende Eltern den Kindern, die sie zeugen, durch diese Entscheidung Unrecht tun können, auch wenn es ihnen dadurch alles in allem nicht schlechter geht. Wie oben bereits angedeutet, gibt es dazu eine Reihe von Vorschlägen, die jeweils unterschiedliche Stärken und Schwächen haben (vgl. zum Überblick Boonin
2014, Kap. 3 und 5; Roberts
2021, Abschn. 3.3). Einige Autorinnen und Autoren haben z. B. argumentiert, dass Kinder bestimmte Rechte haben, und dass es moralisch falsch (und Unrecht gegenüber dem zukünftigen Kind) ist, ein Kind zu zeugen, wenn die angehenden Eltern schon im Vorfeld wissen, dass diese Rechte unvermeidlich verletzt werden (vgl. Velleman
2008).
13 Eine Variante dieser unter dem Stichwort „wronging without harming“ diskutierten Strategie, die besser zu dem hier vertretenen pflicht- bzw. verantwortungsbasierten Ansatz passt, könnte bei der Annahme ansetzen, dass Eltern bestimmte Schutz- und Fürsorgepflichten gegenüber ihren Kindern haben, und dann in analoger Weise argumentieren, dass es moralisch falsch (und Unrecht gegenüber dem zukünftigen Kind) ist, ein Kind zu zeugen, wenn die angehenden Eltern schon im Vorfeld absehen können, dass sie nicht in der Lage sein werden, diese Pflichten zu erfüllen (vgl. Woodward
1986). Was das genau bedeutet, wird natürlich von dem zugrunde gelegten Verständnis elterlicher Verantwortung und elterlicher Pflichten abhängen. Eine plausible Konsequenz wäre jedoch sicherlich, dass Paare, die davon ausgehen müssen, dass sie – aus welchen Gründen auch immer – nicht in der Lage sein werden, für ein Kind zu sorgen oder ihm die für gute Elternschaft konstitutive emotionale Zuwendung zu schenken, normalerweise kein Kind zeugen sollten (und sich verantwortungslos gegenüber dem Kind verhalten, wenn sie es trotzdem tun).
Wenn man reproduktive Verantwortung in der skizzierten Weise an elterliche Verantwortung rückbindet, ist die Zeugung eines Kindes mit einer genetisch bedingten Krankheit oder Behinderung
für sich genommen moralisch neutral.
14 Entscheidend ist nicht, ob ein Kind krank oder behindert sein wird, sondern ob die Eltern den besonderen Bedürfnissen, die sich aus einer bestimmten Krankheit oder Behinderung ergeben, gerecht werden können. Wenn sie die berechtigte Sorge haben, dass es ihnen dazu an persönlichen Fähigkeiten oder äußeren Ressourcen fehlt, haben sie einen guten moralischen Grund – und vielleicht sogar eine moralische Pflicht –, eine PID in Anspruch zu nehmen oder auf genetisch eigene Kinder zu verzichten. Wenn sie sich zutrauen, angemessen für ein Kind mit der entsprechenden Krankheit oder Behinderung zu sorgen (und dieses Zutrauen berechtigt ist), entfällt dieser Grund, und sie sind frei, auf eine PID zu verzichten. Aus dem skizzierten Verständnis reproduktiver Verantwortung folgt daher keine grundsätzliche Pflicht zur Inanspruchnahme einer PID (oder zum Verzicht auf genetisch eigene Kinder), und zwar auch dann nicht, wenn eine PID ohne größeren Zusatzaufwand möglich wäre.
15 Das unpersönliche Argument, dass es besser wäre, wenn an Stelle eines kranken Kindes ein anderes, gesundes Kind zur Welt kommen würde, ist für individuelle reproduktive Entscheidungen nach dieser Auffassung schlicht irrelevant.
Um einen sinnvollen Beitrag zur Ethik reproduktiver Entscheidungen zu liefern, müsste das skizzierte Verständnis reproduktiver Verantwortung natürlich weiter ausgearbeitet, gegen Einwände verteidigt
16 und an weiteren Konfliktfällen erprobt werden. Das würde an dieser Stelle jedoch zu weit führen. Ich möchte es daher bei den oben angestellten Überlegungen belassen und mich stattdessen mit einem möglichen Argument
zugunsten von PB auseinandersetzen, das zugleich als Einwand gegen die vorgeschlagene, strikt personenbezogene Deutung reproduktiver Verantwortung verstanden werden kann.
Reproduktive Verantwortung, Präimplantationsdiagnostik und das Röteln-Beispiel
Savulescu und Kahane (
2017, S. 617) geben ausdrücklich zu, dass die Annahme der Existenz unpersönlicher Gründe nicht selbstverständlich ist; aus ihrer Sicht stellt die Tatsache, dass PB auf die Existenz unpersönlicher Gründe festgelegt ist, sogar einen der stärksten Einwände gegen PB dar. Um Skeptikerinnen und Skeptiker von PB zu überzeugen, setzen sie im Wesentlichen auf ein Plausibilitätsargument: Sie konstruieren ein Beispiel, das zeigen soll, dass wir die von PB postulierte unpersönliche moralische Pflicht zur Auswahl zukünftiger Kinder im Alltag problemlos akzeptieren. Das Beispiel geht im Kern auf Parfit zurück (
1976), ist von Savulescu und Kahane jedoch leicht angepasst worden. In der Version von Savulescu und Kahane bezieht es sich auf ein Paar, das vor der Entscheidung steht, entweder während einer Röteln-Epidemie ein Kind zu zeugen (mit der Folge, dass das Kind möglicherweise mit einem kongenitalen Röteln-Syndrom zur Welt kommen wird) oder zu warten, bis die Epidemie abgeklungen ist: „A couple decides to have a child. However, if the woman falls pregnant now, it is highly likely that she will contract rubella and the baby will be born with congenital rubella – blind, deaf and with severe brain damage. In a few months, the epidemic will have passed and she would likely have a normal child“ (Savulescu und Kahane
2009, S. 276).
Nach Savulescu und Kahane ist es „unkontrovers“, dass die Frau warten sollte (Savulescu und Kahane
2009, S. 276). Wie Parfit in seinen Ausführungen zum Nicht-Identitäts-Problem deutlich gemacht hat, haben Entscheidungen über den Zeitpunkt der Zeugung jedoch Auswirkungen darauf, welches Kind zur Existenz gelangt: Weil die Identität des zukünftigen Kindes davon abhängt, aus welcher Ei- und Samenzelle es entsteht, und weil in jedem Monat eine andere Eizelle heranreift (und im Hoden des Mannes andere Spermien gebildet werden), wäre das Kind, das nach dem Abklingen der Pandemie zur Welt kommen würde, ein anderes als das Kind, das während der Pandemie zur Welt kommen würde (vgl. Parfit
1984, S. 350–354). Die Entscheidung über den Zeitpunkt der Zeugung eines Kindes ist „identitätsbeeinflussend“ (
identity-affecting) und damit nach Savulescu und Kahane strukturell analog zur Entscheidung zwischen mehreren Embryonen im Rahmen einer PID. Savulescu und Kahane werten die Reaktionen auf das Röteln-Beispiel daher als Beleg dafür, dass das Prinzip des prokreativen Wohltuns nicht im Widerspruch zu unserer Alltagsmoral steht, sondern dort bereits angelegt ist: „[A]lthough many respond with repugnance to the idea that we should choose what our future children would be like, it is in fact implicit in commonsense morality that it is morally permissible and often expected of parents to take the means to select future children with greater potential for well-being“ (Savulescu und Kahane
2009, S. 277).
Mit dem Röteln-Beispiel wollen Savulescu und Kahane zeigen, dass wir reproduktive Entscheidungen „diesseits“ der PID, die Einfluss auf die Identität des zukünftigen Kindes haben, selbstverständlich anhand unpersönlicher Wohltunsprinzipien beurteilen (und damit zugleich nahelegen, dass wir uns auch beim Umgang mit der PID an solchen Prinzipien orientieren sollten). Dabei setzen sie stillschweigend voraus, dass es keine Möglichkeit gibt, das Urteil, dass die Frau bzw. das Paar in dem Beispiel warten sollte, auf personenbezogene Weise zu begründen. Diese Voraussetzung ist jedoch – wie mittlerweile klar sein sollte – keineswegs selbstverständlich. Natürlich kann man in dem Röteln-Beispiel nicht sagen, dass es
für das Kind besser wäre, wenn die Frau bzw. das Paar warten würde (das war ja gerade Parfits ursprüngliche Einsicht). Das bedeutet jedoch nicht, dass jeder, der das Urteil „Die Frau bzw. das Paar sollte warten“ akzeptiert, damit implizit ein unpersönliches Wohltunsprinzip wie PB akzeptiert hätte. Wie weiter oben bereits dargelegt worden ist, sind in der Debatte um das Nicht-Identitäts-Problem zahlreiche Alternativen zu Parfits unpersönlichem Prinzip Q (und damit auch zu PB) formuliert worden. Anders als Savulescu und Kahane suggerieren, handelt es sich bei der Annahme unpersönlicher Wohltunspflichten keinesfalls um eine allgemein anerkannte Lösung für das Nicht-Identitäts-Problem, sondern lediglich um einen
möglichen Lösungsansatz, der – wie alle anderen bisher diskutierten Lösungsansätze – mit bestimmten theoretischen Kosten verbunden ist.
17 Rebecca Bennett hat Savulescu und Kahane daher zu Recht vorgeworfen, dass sie sich zwar auf Parfits Ausführungen zum Nicht-Identitäts-Problem stützen, der Auseinandersetzung mit diesem Problem jedoch im Grunde ausweichen (vgl. Bennett
2014).
Die These, dass unsere Alltagsmoral implizit auf ein Prinzip wie PB festgelegt sei („commonsense morality seems committed to favouring selection of children who are more advantaged“; Savulescu und Kahane
2009, S. 276 f.), ist vor dem Hintergrund der nicht abgeschlossenen Debatte um das Nicht-Identitäts-Problem also voreilig. Mit dem Röteln-Beispiel verschaffen sich Savulescu und Kahane in erster Linie einen dialektischen Vorteil: Wer PB und die aus PB abgeleitete
Prima-facie-Pflicht zur Inanspruchnahme einer PID ablehnt, muss entweder zeigen, wie das Urteil, dass die Frau bzw. das Paar warten sollte, ohne Rekurs auf ein unpersönliches Wohltunsprinzip wie PB begründet werden kann, oder plausibel machen, dass es relevante Unterschiede zwischen der Situation des Paares in dem Röteln-Beispiel und der Auswahl von Embryonen im Rahmen einer PID gibt, die eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Zum Abschluss meines Beitrags möchte ich daher zumindest andeuten, wie Verfechterinnen und Verfechter der pflichtbasierten Variante der „wronging without harming“-Strategie, für die ich weiter oben plädiert habe, an dieser Stelle argumentieren könnten.
Wenn das Paar in dem Röteln-Beispiel nicht bis zum Abklingen der Epidemie wartet und als Folge davon ein Kind bekommt, das blind und taub ist und schwere Gehirnschädigungen hat, dann mag es zwar zutreffen, dass für dieses Kind unter den gegebenen Umständen kein anderes Leben möglich gewesen wäre (jedenfalls dann, wenn eine Zeugung mittels IVF und ein späterer Transfer des Embryos ausgeschlossen sind). Das Paar hätte die fraglichen Beeinträchtigungen bei seinem zukünftigen Kind nur vermeiden können, indem es die Zeugung des Kindes aufschiebt; dann wäre aber gerade nicht dasselbe Kind, sondern ein anderes Kind zur Welt gekommen. Trotzdem gibt es einen einfachen und unproblematischen Sinn, in dem das Kind gesund zur Welt hätte kommen können, nämlich wenn es keine Röteln-Epidemie gegeben oder die Frau sich das Röteln-Virus nicht zugezogen hätte. Dass der Embryo, aus dem das Kind entstanden ist, durch das Röteln-Virus im Körper der Frau geschädigt worden ist, ist nicht in derselben Weise unvermeidlich, wie genetisch bedingte Krankheiten (noch) unvermeidlich sind. Der Embryo ist im Körper der Frau mit dem Röteln-Virus angesteckt worden. Und auch wenn man der Frau daraus für sich genommen selbstverständlich keinen Vorwurf machen kann, weil dieser Vorgang außerhalb ihrer Kontrolle lag, könnte man vielleicht doch im Sinne der oben skizzierten Konzeption reproduktiver Verantwortung argumentieren, dass es moralisch falsch ist, ein Kind zu bekommen bzw. zu zeugen, wenn man keine Möglichkeit hat, das entstehende Kind vor einer derart gravierenden Gefahr für seine Gesundheit und sein Wohlergehen zu schützen. Der moralische Fehler wäre dann in gewisser Weise mit dem Fehler vergleichbar, den ein Paar macht, wenn es ein Kind zeugt, obwohl es nicht in der Lage ist, für dieses Kind zu sorgen (und obwohl niemand anderes da ist, der diese Aufgabe übernehmen kann). In beiden Fällen wäre der Gedanke, dass Paare auf die Zeugung eines Kindes verzichten sollten, wenn sie nicht in der Lage sind, elementare Schutz- und Fürsorgepflichten gegenüber dem Kind wahrzunehmen. Ob sie die Möglichkeit haben, später ein anderes Kind zu zeugen, dem gegenüber sie ihre Schutz- und Fürsorgepflichten besser wahrnehmen können, würde dabei keine Rolle spielen.
Das vorgeschlagene Verständnis reproduktiver Verantwortung kann also durchaus herangezogen werden, um zu erklären, warum das Paar in dem Röteln-Beispiel warten sollte. Aber selbst wenn man die vorgeschlagene Deutung ablehnt und das Urteil, dass das Paar warten sollte, als unpersönliches moralisches Urteil versteht, folgt daraus nicht zwingend, dass Paare einen unpersönlichen moralischen Grund haben, eine PID in Anspruch zu nehmen, um die Weitergabe einer schwerwiegenden genetischen Krankheit an ihr Kind zu vermeiden. Die unpersönliche Haltung gegenüber möglichen zukünftigen Kindern in dem Röteln-Beispiel könnte nämlich dadurch gerechtfertigt sein, dass diese Kinder – anders als Embryonen in der Petrischale – noch kein möglicher Gegenstand sprachlicher Bezugnahme sind.
18 Sie sind in einem anderen Sinne „nur möglich“ als Embryonen in der Petrischale, nicht nur, weil eine konkrete Entität fehlt, die sich – wenn der entsprechende Prozess nicht unterbrochen wird – in raum-zeitlicher Kontinuität zu einem zukünftigen Kind entwickeln wird, sondern auch, weil die Wahrscheinlichkeit, dass bei der Zeugung ein bestimmtes Spermium und eine bestimmte Eizelle zusammentreffen, verschwindend gering ist. Wenn bei der PID ein Embryo vom Transfer ausgeschlossen wird, ist damit eine Entscheidung gegen ein bestimmtes zukünftiges Kind verbunden; wenn ein Paar die Zeugung aufschiebt, verhindert es lediglich, dass eines von mehreren Billionen möglichen zukünftigen Kindern zur Existenz kommt. Dieser Unterschied könnte möglicherweise erklären, warum das Paar in dem Röteln-Beispiel frei ist, sich an unpersönlichen moralischen Erwägungen zu orientieren, während eine solche Haltung gegenüber zukünftigen Kindern, die bereits als Embryonen existieren, im Licht der oben skizzierten Konzeption reproduktiver Verantwortung als Aspekt oder „Vorform“ elterlicher Verantwortung nicht angemessen ist.