Primär-chronische Osteomyelitis

Eine 15-jährige Patientin stellte sich, nach Eingliederung einer festsitzenden kieferorthopädischen Apparatur, aufgrund rezidivierender, schmerzhafter perimandibulärer Schwellungen rechts, nach Ausschluss einer odontogenen Ursache, bei einem niedergelassenen Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgen vor (Fallbeschreibung hier). Die Diagnose lautete primär-chronische Osteomyelitis. Definition Die primär-chronische Osteomyelitis bezeichnet eine nichteitrige, chronisch rezidivierende Entzündung des kortikalen und spongiösen Knochens unklarer Ätiologie [1, 2, 9]. Im maxillofazialen Bereich ist hauptsächlich der Unterkiefer betroffen [1, 7, 9]. Der klinische Verlauf ist gekennzeichnet durch intermittierende, schmerzhafte Schwellungen, begleitet von einer Einschränkung der Mundöffnung sowie fakultativ von einer zervikalen Lymphadenopathie. Wie im vorliegenden Fall kann eine Hypästhesie im Innervationsgebiet des N. alveolaris inferior auftreten, die als Vincent-Symptom bezeichnet wird [1, 2]. Bei jungen Patienten scheint die klinische Symptomatik der primär-chronischen Verlaufsform u. a. durch eine verstärkte sich als subperiostale Knochenapposition manifestierende periostale Reaktion stärker ausgeprägt zu sein. Diese imponiert radiologisch im Gegensatz zu der im späteren Krankheitsverlauf und bei älteren Patienten gehäuften Sklerosierungstendenz als verdickte, zwiebelschalenartig duplizierte Kortikalis [2, 6, 7]. Aufgrund dessen wird eine Unterteilung in eine Early-Onset- und Adult-Onset-Form gefordert [1, 9]. Osteomyelitiden werden auch in Verbindung mit Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises gebracht. Die primär-chronische Osteomyelitis steht im Zusammenhang mit der chronisch rekurrenten, multifokalen Osteomyelitis mit multiplen skeletalen Herden sowie dem SAPHO-Syndrom (Synovitis, Akne, Pustulosis palmoplantaris, Hyperostosis und Osteitis), einer dermatoskeletalen Systemerkrankung [1, 7]. Pathogenese Im Gegensatz zur eindeutigen bakteriellen Ätiologie der akuten und sekundär-chronischen Osteomyelitis wird bei der primären chronischen Verlaufsform eine unzureichende Durchblutung des Knochens vermutet [1, 2]. Diese Hypothese würde auch das gehäufte Vorkommen im Unterkiefer bei physiologisch geringerer Durchblutung im Vergleich zum Oberkiefer erklären [2, 3, 9]. Die eingeschränkte Möglichkeit der Gewebeexpansion bei entzündungsbedingter Ödembildung durch die ausgeprägte Kompakta im Bereich des Unterkiefers führt zur intramedullären Nekrosenbildung [4]. Prädisponierend sind verdichtende, strukturelle Veränderungen des Knochens, wie sie beispielsweise bei der Osteitis deformans oder bei einer Osteopetrosis auftreten [1, 2, 9]. Diagnose Neben dem schleichenden Krankheitsbeginn und dem nicht immer pathognomonischen histologischen Befund liefert die konventionelle Röntgendiagnostik mit dem charakteristischen Auftreten von osteolytischen und verstärkt radioopaken Zonen gute diagnostische Hinweise (Abb. 6, [7]). Abb. 6 Orthopantomogramm. Transluzente Areale neben vereinzelten Sklerosierungszonen im Unterkiefer rechts Regio 44–46 × Diese durch Knochenumbau bedingten Veränderungen können im konventionellen Röntgen frühestens 2 bis 3 Wochen nach Erkrankungsbeginn festgestellt werden [4, 6, 8]. Die Computertomographie kann strukturelle Knochenveränderungen ebenso feststellen wie die oben beschriebene MRT, bei der Markraumödeme bereits frühzeitig erkannt werden können und die deshalb gegenüber der CT favorisiert wird. Von Anbeginn der Erkrankung kann man mithilfe der Skelettszintigraphie die durch die Osteomyelitis bedingten stoffwechselaktiven Areale des Knochens darstellen [7]. Optimiert wird diese Untersuchung durch die Darstellung der nuklidreichen Areale in den topographischen Schnittbildern der Single-Photon-Emissionscomputertomographie ( Abb. 7). Abb. 7 Single-Photon-Emissionscomputertomographie. Koronare Ansicht mit vermehrter Traceranreicherung im Unterkiefer rechts × Der hohen Sensitivität dieser Methode steht die geringe Spezifität gegenüber, denn die Knochenumbaurate ist auch bei postoperativen, regenerativen Prozessen gesteigert [3, 4, 8]. Die nahezu 100%ige Spezifität der Granulozytenszintigraphie ergibt sich durch die Anreicherung der radioaktiv markierten Granulozyten in entzündlich verändertem Gewebe [3]. Aufgrund der erhöhten Strahlenexposition und der hohen Kosten des Verfahrens ist diese Untersuchungsform jedoch komplexen Fragestellungen vorbehalten [4]. Differenzialdiagnose Die sekundär-chronische Osteomyelitis zeichnet sich u. a. durch die Bildung von Fisteln mit putrider Sekretion aus. Sie geht zumeist aus einer akuten Osteomyelitis, seltener aus einer lokalen Ostitis bzw. odontogenen Weichgewebsinfektion hervor [4]. Ferner ist die fokal und diffus sklerosierende Osteomyelitis abzugrenzen. Erstere tritt vor allem im Molarenbereich der Mandibula auf und bildet sich nach Eradikation des verursachenden, odontogenen Fokus komplett oder partiell unter Entstehung einer Knochennarbe zurück [4, 7]. Die ätiologisch unklare, diffus sklerosierende Osteomyelitis beschreibt eigentlich einen typischen radiologischen Befund und wird oft synonym zu der primär- chronischen Osteomyelitis genannt [1, 2, 6]. Obwohl diese charakteristische Sklerose von diversen Inflammationen verursacht werden kann [1], wird sie von einigen Autoren als eigenständiges Krankheitsbild dargestellt [12]. In verschiedenen Klassifikationen wird nach wie vor die Entität der chronisch sklerosierenden Osteomyelitis Typ Garrè genannt. Die Garrè-Abhandlung von 1893 beschreibt jedoch kein eigenständiges Krankheitsbild, es werden lediglich verschiedene klinische Verlaufsformen akuter Osteomyelitiden aufgezählt. Aufgrund der detaillierten Beschreibung eines Falls mit markanter Knochenapposition im Kiefer im Sinne einer Periostitis ossificans bei klar erkennbarem odontogenen Fokus [13] wird die Osteomyelitis Typ Garrè heute im Zusammenhang mit der oben beschriebenen Early-Onset-Form der primär-chronischen Osteomyelitis erwähnt [2]. Differenzialdiagnostische Schwierigkeiten bereitet oft auch der entzündungsbedingte Funktionsausfall des N. alveolaris inferior. Der Befund lässt irrtümlich Rückschlüsse auf ein malignes Geschehen mit infiltrativem Wachstum zu. Vincent beobachtete das von ihm beschriebene Symptom auch bei Osteosarkomen, Chondrosarkomen und Metastasen im Kieferbereich [12]. Der uncharakteristische Krankheitsverlauf sowie der teilweise unspezifische radiologische Befund erfordern ebenso den Ausschluss einer fibrösen Dysplasie, eines ossifizierenden bzw. nichtossifizierenden Fibroms, eines Zementoms, eines Morbus Paget sowie im vorgestellten Fall die möglichen Ursachen einer Lymphadenopathie [2, 9]. Für eine sichere Diagnosestellung ist die Entnahme einer Probebiopsie obligat [9]. Verlauf und Therapie Die zahlreichen Therapieansätze lassen die unklare Ätiologie der Erkrankung erkennen [2, 9]. Eine alleinige antimikrobielle Therapie kann die Frequenz und Intensität der schmerzhaften Episoden lindern, führt jedoch selten zu einer vollständigen Genesung des Patienten [9]. Ob dafür die schlechte Durchblutung des osteomyelitisch veränderten Knochens oder eine fehlende infektiöse Ursache verantwortlich ist, ist fraglich. Da zumeist ein Nachweis von verursachenden Keimen nicht erbracht werden kann, entfällt eine erregerspezifische Therapie. Die antibiotische Therapie wird mit einer Dauer von 4 bis 6 Wochen empfohlen, wobei die Überlegenheit einer bakteriziden gegenüber einer bakteriostatischen Antibiose diskutiert wird [8]. Zur Steigerung der Durchblutung wird das Konzept der Dekortikation verfolgt. Dabei wird der sklerosierte, hypovaskularisierte Knochen abgetragen und gut durchblutetes Weichgewebe an den Markraum angelagert. Die Krankheit verläuft meist periodisch mit Exazerbationen variabler Intensität und Dauer, die im Laufe der Jahre abnehmen und spontan sistieren können. Von radikalchirurgischem Vorgehen wird in der Regel abgeraten [1, 2, 7, 9]. Zu erwähnen sind im Rahmen einer alternativen medikamentösen Behandlung der lindernde Effekt von Kortisonpräparaten und die beachtenswerten Behandlungserfolge mit Bisphosphonaten, die ansonsten im Kieferbereich für die Verursachung von assoziierten Nekrosen bekannt sind [1, 7, 14]. Alternativ kann bei fehlendem Erfolg mit oben genannten Therapien oder zusätzlich bei erschwerend hinzukommenden strukturellen Knochenveränderungen, wie dem Morbus Paget oder dem Morbus Albers-Schönberg, die hyperbare Sauerstofftherapie angewendet werden [10, 11]. Der positive Effekt ist, trotz kontroverser Meinungen in der Literatur, bekannt. Es werden durchschnittlich 40 Anwendungen empfohlen [5]. Abb. 8 Deutliche Rückläufigkeit der osteolytischen Zonen mit Zunahme der Sklerosierung im Kontrollorthopantomogramm × Bei unserer Patientin ist das Krankheitsbild nach mehrwöchiger, bakterizid-antibiotischer Therapie rückläufig (Abb. 8). Das Mädchen steht weiterhin unter regelmäßiger, ambulanter Beobachtung. Fazit Die primär-chronische Osteomyelitis bezeichnet eine nichteitrige, chronisch rezidivierende Entzündung des kortikalen und spongiösen Knochens unklarer Ätiologie. Die wichtigsten Diagnoseverfahren sind das konventionelle Röntgen, die MRT und die Skelettszintigraphie. Die antibiotische Therapie wird mit einer Dauer von 4 bis 6 Wochen empfohlen. Zur Steigerung der Durchblutung wird das Konzept der Dekortikation verfolgt. Von radikalchirurgischem Vorgehen wird in der Regel abgeraten. Interessenkonflikt Die korrespondierende Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Literatur 1. Baltensperger M, Grätz K, Bruder E, Lebeda R (2004) Is primary chronic osteomyelitis a uniform disease? Proposal of a classification based on a retrospective analysis of patients treated in the past 30 years. J Craniomaxillofac Surg 32:34–50 2. Bevin CR, Inwards CY, Keller EE (2008) Surgical management of primary chronic osteomyelitis: a long-term retrospective analysis. J Oral Maxillofac Surg 66:2073–2085 3. Boronat-Ferrater M, Simo‘-Perdigo‘ M, Cuberas-Borro‘s G et al (2011) Bone scintigraphy an radiolabeled white blood cell scintigraphy for the diagnosis of mandibular osteomyelitis. Clin Nucl Med 36:273–276 4. Ehrenfeld M, Winter W (2009) Entzündungen des Knochens. In: Schwenzer N, Ehrenfeld M (Hrsg) Zahnärztliche Chirurgie. Thieme, Stuttgart, S 150–172 5. Handschel J, Brüssermann S, Depprich R, Ommerborn M et al (2007) Hyperbare Sauerstofftherapie bei Unterkiefer-Osteomyelitis. Mund Kiefer GesichtsChir 11:285–290 6. Jacobsson S (1984) Diffuse sclerosing osteomyelitis oft the mandible. Int J Oral Surg 13:363–385 7. Neville BW, Damm DD, Allen CM, Bouquot JE (2009) Osteomyelitis. In: Neville BW, Damm DD, Allen CM, Bouquot JE (Hrsg) Oral and maxillofacial pathology. Saunders, St. Louis Missouri, S 141–153 8. Salman S, Young M, Van Sickels JE (2011) Osteomyelitis after bilateral sagittal split osteotomy: case report and a review of the management. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 111:442–448 9. Theologie-Lygidakis N, Schoinohoriti O, Iatrou I (2011) Surgical management of primary chronic osteomyelitis of the jaws in children: a prospective analysis of five cases and review of the literature. Oral Maxillofac Surg 15:41–50 10. Trivellato AE, Ribeiro MC, Sverzut CE, Bonucci E et al (2009) Osteopetrosis complicated by osteomyelitis of the maxilla and mandible: light and electron microscopic findings. Head Neck Pathol 3:320–326 11. Van Merkesteyn JPR, Bakker DJ, Van Der Waal I et al (1984) Hyperbaric Oxygen treatment of chronic osteomyelitis of the jaws. Int J Oral Surg 13:386–395 12. Vincent B (1896) Sur un signe precoce de certaines osteites du maxillaire inferrieur de terminant par necrose. Rev Trimestr Suisse d’Odontol 6:148 13. Wood RE, Nortjé CJ, Grotepass F, Schmidt S et al (1988) Perisotitis ossificans versus Garrè’s osteomyelitis. Part I. What did Garrè really say? Oral Surg Oral Med Oral Pathol 65:773–777 14. Yamazaki Y, Satoh C, Ishikawa M, Notani K et al (2007) Remarkable response of juvenile diffuse sclerosing osteomyelitis of mandible to pamidronate. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 104:67–71

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