Nicht nur das Mitwirken der Patienten selbst ist für die Ausschöpfung der Potenziale ihrer Behandlungsdaten für die sekundäre Forschungsnutzung von essenzieller Bedeutung. Die Daten werden vom Gesundheitspersonal, d. h. von Ärzten, Pflegepersonal und anderen, erhoben und dokumentiert, was auch diesen Akteuren eine wichtige Rolle bei der Sekundärnutzung von Patientendaten zukommen lässt. Daher widmet sich der Beitrag nun der Rolle der Ärztinnen und Ärzte.
Professionsethische Pflichten und Rechte der Ärzte
Ohne Unterstützung seitens der Ärztinnen und Ärzte ist eine systematische Sekundärnutzung von Behandlungsdaten kaum vorstellbar. Je nach konkreten Praxisbedingungen ist es eventuell erforderlich, dass Ärzte ihre Patienten über die Möglichkeit der Sekundärnutzung aufklären, die Einwilligung zur Nutzung der Daten einholen oder Dokumentationsroutinen entsprechend den Anforderungen der Sekundärnutzung anpassen. Es stellt sich daher die Frage: Haben Ärzte und Ärztinnen eine professionsethische Pflicht, mit ihrem Mitwirken die Sekundärnutzung der Daten ihrer Patienten zu unterstützen?
Ärzte sollten die Sekundärnutzung aus Gründen der Versorgungsverbesserung, Effizienz und öffentlichen Gesundheit unterstützen
Wir kommen zu dem Schluss, dass Ärzte und Ärztinnen eine solche professionsethische Pflicht haben [
6]. Diese Pflicht leiten wir dabei aus bereits etablierten und kodifizierten generellen ärztlichen Professionspflichten ab, wie sie bspw. vom Weltärztebund erklärt wurden. Gemäß den durch Vertreter der Ärzteschaft selbst aufgestellten berufsethischen Kodizes haben Ärzte und Ärztinnen die allgemeine Pflicht, dabei zu helfen, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern [
7]. Die Sekundärnutzung zu unterstützen, hilft bei dieser Verbesserung, da Wissen, das in der Sekundärnutzung gewonnen wird, dazu beitragen kann, neue oder verbesserte Behandlungsmethoden zu entwickeln. Außerdem haben Ärztinnen und Ärzte gemäß entsprechenden Kodizes die generelle Pflicht, die öffentliche Gesundheit zu fördern [
8]. Auch zur hier eingeforderten Verbesserung der öffentlichen Gesundheit kann die Sekundärnutzung – und damit deren Unterstützung durch Ärzte – einen Beitrag leisten, bspw. in Form epidemiologischer oder Public-Health-Forschung. Zudem haben Ärzte und Ärztinnen die generelle Pflicht, Kosteneffizienz im Gesundheitswesen zu fördern [
9]. Die Unterstützung der Sekundärnutzung ist in zweifacher Weise ein Beitrag zur Erfüllung dieser Pflicht: So können z. B. vergleichende Wirksamkeits- oder Qualitätsverbesserungsstudien, die mit Behandlungsdaten durchgeführt werden, neue Erkenntnisse zur Optimierung von Therapien erzeugen und somit dabei helfen, Ressourcen im Gesundheitswesen effizienter einzusetzen. Zudem beinhaltet die Pflicht zur Kosteneffizienz die optimale Nutzung aller verfügbaren Ressourcen. Vorhandene Behandlungsdaten sind eine solche Ressource. Sie nicht zu verwenden, würde Opportunitätskosten für Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit der Gesundheitsversorgung erzeugen und somit dem Gebot der Kosteneffizienz widersprechen.
Neben den genannten generellen und kodifizierten Professionspflichten, die
für eine spezielle ärztliche Pflicht zur Unterstützung der Sekundärnutzung sprechen, gibt es auch ärztliche Professionspflichten, die – zumindest auf den ersten Blick –
gegen eine solche Unterstützung sprechen. So steht die Weitergabe von Behandlungsdaten potenziell in Spannung mit der ärztlichen Schweigepflicht und der Pflicht, die informationelle Selbstbestimmung der Patienten zu schützen – beides wohlbekannte Pflichten der Ärzteschaft [
10]. Diese Spannung kann jedoch mit Rückgriff auf die Einwilligung der Patienten und Patientinnen entschärft werden. Dahingegen lässt sich eine gewisse Spannung im besonderen Fall der Widerspruchslösung weniger leicht auflösen, da bei dieser die Patienten nicht persönlich über die Nutzung ihrer Daten aufgeklärt werden und nicht aktiv einwilligen. Aus ethischer Sicht könnte diese Spannung jedoch auf ein ethisch vertretbares Maß reduziert werden, wenn breite Aufklärungskampagnen über die Sekundärnutzung in der Bevölkerung durchgeführt werden und Patienten der Datennutzung jederzeit und niederschwellig widersprechen können.
Jeder Mehraufwand für Ärzte könnte sich negativ auf die Behandlungsqualität auswirken
Darüber hinaus spricht die wohletablierte Pflicht der Ärzte und Ärztinnen, das Wohlergehen ihrer Patienten bzw. Patientinnen als oberste Priorität zu behandeln [
10], auf den ersten Blick gegen eine ärztliche Unterstützung der Sekundärnutzung: Jeder Mehraufwand für Ärzte trifft auf bereits knappe Zeitkontingente oft bereits überlasteter Ärzte und könnte sich somit negativ auf die Behandlungsqualität auswirken. Um etwaige negative Auswirkungen auf Behandlungsqualität und Patientenwohl zu vermeiden, sollte im Rahmen der Etablierung einer sekundären Forschungsnutzung von Behandlungsdaten Software entwickelt werden, welche die Dokumentation von Daten möglichst effizient gestaltet oder bereits vorhandene Dokumentationsaufgaben ggf. sogar erleichtert, bspw. durch fertige Textbausteine zum Erstellen von Arztbriefen o. ä. Außerdem sollte die Bereitstellung finanzieller Mittel zur Einstellung zusätzlichen Personals oder – im Fall von Ärzten und Ärztinnen in privater Praxis – zur direkten Kompensation zusätzlichen Aufwands erfolgen.
Derartige Maßnahmen würden, neben der Vermeidung von Pflichtkonflikten, auch die in Ärztebefragungen geäußerten praktischen Befürchtungen bzgl. einer Arbeitsüberlastung durch die Sekundärnutzung [
11,
12] adressieren. Ärzte und Ärztinnen äußern zudem Bedenken, dass Behandlungsdaten verwendet werden könnten, um unfaire Vergleiche zwischen Behandlern oder Kliniken/Praxen durchzuführen [
11,
12]. Auch hier sollte im Rahmen der Etablierung der Sekundärnutzung auf die Bedenken der Ärzte und Ärztinnen eingegangen werden, bspw. durch Vorgaben, welche unfaire Vergleiche zwischen Kliniken, Abteilungen oder gar einzelnen Ärzten verbieten.
Als Fazit der hier genannten Überlegungen lässt sich festhalten: Wenn eventuelle Spannungen mit bestimmten generellen ärztlichen Pflichten (Schweigepflicht, Achtung der informationellen Selbstbestimmung der Patienten, Verpflichtung auf Patientenwohl als höchste Priorität) durch genannte Maßnahmen weitgehend vermieden bzw. reduziert und praktische Einwände der Ärztinnen und Ärzten angemessen adressiert werden, dann haben Ärzte und Ärztinnen die professionsethische Pflicht, die Sekundärnutzung klinischer Daten zu unterstützen. Wie die vorliegenden Befragungen zeigen, sehen viele Ärzte das ähnlich.
Sozialwissenschaftliche Ergebnisse zu Ärzten
Um die Akzeptanz und mögliche Bedenken der Ärztinnen und Ärzte, die ja eine zentrale Rolle für die Sekundärnutzung haben, einzufangen, wurde eine Online-Umfrage unter 446 klinisch tätigen und niedergelassenen Ärzten durchgeführt [
12].
Ebenso wie Patienten zeigten Ärzte eine hohe Bereitschaft, Sekundärnutzung zu unterstützen
Ebenso wie Patienten und Patientinnen zeigten Ärzte und Ärztinnen eine hohe Bereitschaft, Sekundärnutzung zu unterstützen: So fänden 96 % der teilnehmenden Ärzte und Ärztinnen es grundsätzlich wichtig, dass klinische Patientendaten für Forschungszwecke genutzt werden, und 87 % der Befragten wären grundsätzlich bereit, diese Sekundärnutzung zu unterstützen. Lediglich 8 % äußerten grundsätzliche Bedenken. Mit 68 % erachtete eine große Mehrheit darüber hinaus die Unterstützung der Sekundärnutzung als ihre moralische Pflicht.
Mit Blick auf die maßgeblichen Bedingungen für die Unterstützung einer Sekundärnutzung zeigten sich ca. 75 % der befragten Ärzte und Ärztinnen grundsätzlich bereit, ihre Arbeitsabläufe anzupassen. Allerdings knüpften sie diese Bereitschaft daran, dass sich für sie keine (merklich) höhere Arbeitsbelastung ergibt und die Privatsphäre ihrer Patienten und Patientinnen geschützt ist. Außerdem stimmte die Mehrheit der Ärzte und Ärztinnen (62 %) darin überein, dass nichtmedizinisches Personal die informierte Einwilligung der Patienten zur Sekundärnutzung durchführen sollte.
Bei einigen Rahmenbedingungen für Sekundärnutzung unterschieden sich die Forderungen forschender Ärzte von rein klinisch tätigen Ärzten systematisch: Während forschenden Ärzte und Ärztinnen die Berücksichtigung ihrer Forschungsinteressen und die Qualität der Daten besonders wichtig waren, legten rein klinisch tätige Ärztinnen und Ärzte besonders großen Wert auf die Privatsphäre ihrer Patienten, die Wahrung der Arzt-Patienten-Beziehung und die monetäre Kompensation im Fall zusätzlicher Aufwände.