Die Primärversorgung könnte bei steigendem Versorgungsdruck durch Integration weiterer Berufsgruppen aufrechterhalten und ausgeweitet werden. Dabei müssen die hausärztliche Versorgung und Grundprinzipien der Allgemeinmedizin berücksichtigt werden.
Zielsetzung
Ziel war es, unter Einbindung vielfältiger Perspektiven ein Modell für ein hausärztliches Primärversorgungszentrum mit einem interprofessionellen Team (HÄPPI) zu entwickeln.
Material und Methoden (Prozess)
Eine multiprofessionelle Arbeitsgruppe im Hausärzteverband Baden-Württemberg entwickelte ab 2022 in insgesamt 9 Workshops das HÄPPI. Anfang 2023 wurden 9 Interviews (45–60 min) mit Expert*innen aus 8 unterschiedlichen Versorgungsbereichen (medizinische*r Fachangestellte*r, Hausärzt*in, Krankenkassenmitarbeiter*in, Jurist*in, Fachärzt*in, Physician Assistant, Pflegefachkraft, Sozialarbeiter*in) durchgeführt, um Hypothesen für eine gelungene interprofessionelle Zusammenarbeit zu generieren.
Ergebnisse
Die Expert*innen benannten als Chancen u. a. eine erweiterte und patientenzentrierte Versorgung, ein verbessertes Versorgungsmanagement chronisch kranker Menschen und den Ausbau des Versorgungsangebots. Als Herausforderungen wurden Dokumentation und Teamzusammenarbeit sowie externe Rahmenbedingungen benannt. Als Lösungsansätze wurden z. B. eine einheitliche Dokumentation und ein regelmäßiger, teamorientierter Austausch vorgeschlagen. Unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse wurden in der Arbeitsgruppe Ziele des HÄPPI formuliert und das HÄPPI-Konzept in einer Kurz- und einer Langversion entwickelt.
Diskussion
Durch einen semistrukturierten Prozess war es möglich, ein konkretes und realistisches Modell für eine zukunftsorientierte Primärversorgung in Deutschland zu formulieren, das schrittweise implementiert werden kann. HÄ müssen bei den Herausforderungen im Prozessmanagement unterstützt und andere Gesundheitsberufe für das HÄPPI gewonnen werden.
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Hintergrund und Fragestellung
Die sich verändernde Bevölkerungsstruktur stellt die Gesundheitsversorgung vor große Herausforderungen. Durch die zunehmende Lebenserwartung steigt der Anteil an Patient*innen mit chronischen Erkrankungen, Komorbiditäten und komplexen Krankheitsbildern. So wird in Deutschland ein Anstieg von Menschen mit Diabetes Typ 2 um bis zu 77 % bis 2040 prognostiziert [1]. Gleichzeitig verändert sich die Struktur der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter [2]. Bundesweit fehlen nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung über 4800 Hausärzt*innen (HÄ) wobei HÄ bundesweit nur circa ein Drittel der kassenärztlich tätigen Ärzt*innen darstellen [3]. 2009–2011 wurden Maßnahmen ergriffen, die Weiterbildung im Fachbereich Allgemeinmedizin attraktiver zu machen: Seither ist, beeinflusst u. a. durch die Erhöhung der Förderbeiträge für die Weiterbildung [3], die Tätigkeit von strukturierten Weiterbildungsprogrammen, wie der Verbundweiterbildungplus Baden-Württemberg, in sog. Kompetenzzentren Weiterbildung [4] oder auch durch den Quereinstieg in die Allgemeinmedizin [5], die Anzahl der Fachärzt*innen in der Allgemeinmedizin zwar gestiegen [3], allerdings seit 2013 bundesweit nur um 1,2 %. [3]. Mit Bezug auf die tatsächlich vorhandene ärztliche Arbeitszeit ist dies zur Sicherstellung oder gar zum Ausbau der Primärversorgung nicht ausreichend [6].
Internationale Studien zeigen, dass die Einbindung weiterer Gesundheitsberufe in die hausärztliche Versorgung im Sinne einer interprofessionellen Primärversorgung ein vielversprechender Ansatz ist [7‐9]. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen wie folgt:
„Collaborative practice in health-care occurs when multiple health workers from different professional backgrounds provide comprehensive services by working with patients, their families, carers and communities to deliver the highest quality of care across settings.“ [10].
Interprofessionelle Versorgung kann entgegen weitläufigen Annahmen eine Verbesserung der Versorgungsqualität fördern und den Erhalt und Ausbau der Primärversorgung ermöglichen [11‐13]. Weiterhin bietet interprofessionelle Versorgung die Chance, Belastungen für Versorgende zu reduzieren [14], und zeigt in einer Befragung unter HÄ in Nordrhein-Westfalen Potenzial für die Arbeitszufriedenheit [15]. Seit ein paar Jahren steigt die Zahl der Studiengänge der Gesundheitsberufe in Deutschland und das gemeinsame Lernen im Studium im Sinne einer interprofessionellen Ausbildung wird ausgebaut [16].
2008 wurde in Baden-Württemberg die hausarztzentrierte Versorgung (HZV) nach § 73b SGB V mit der AOK Baden-Württemberg begonnen: Nach 15 Jahren zeigen sich eine bessere Versorgungsqualität chronisch kranker Menschen, weniger Krankenhausaufnahmen und am Beispiel Diabetes eine signifikant reduzierte Anzahl schwerwiegender Komplikationen sowie eine längere Lebenserwartung [17]. Ein möglicher Bestandteil der HZV ist die Qualifizierung von medizinischen Fachangestellten (MFA) zu Versorgungsassistent*innen in der Hausärztlichen Praxis (VERAH®), die erweiterte und patientennahe Aufgaben übernehmen können [18].
Ziel der vorliegenden Studie war es, ein machbares Modell für ein hausärztliches Primärversorgungszentrum unter Berücksichtigung verschiedener Versorgungsperspektiven zu entwickeln. Dazu wurden Chancen und Herausforderungen bei der Behandlung durch ein interprofessionelles Betreuungsteam (= Teampraxis) in der Primärversorgung aus Sicht verschiedener Gesundheitsberufe exploriert.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Prozess
Die Modellentwicklung fand in mehreren Schritten statt. Zu Beginn wurde ein erster Entwurf für ein mögliches HÄPPI-Konzept in der Arbeitsgruppe (s. unten: „Arbeitsgruppe“) entwickelt. Um mögliche Stärken und Schwächen zu eruieren und das Konzept zu konkretisieren, wurden Einzelinterviews mit Vertreter*innen verschiedener, für das HÄPPI relevanter Berufsgruppen (s. unten: „Interviews mit Expert*innen“) geführt. Die Ergebnisse aus diesen Interviews wurden dann in der u. g. Arbeitsgruppe aufgegriffen und das HÄPPI-Konzept finalisiert.
Ethik
Alle Interview-TN stimmten der Teilnahme an der Studie und der pseudonymisierten Verwendung ihrer Daten schriftlich zu (Ethikvotum der Medizinischen Fakultät Heidelberg Nr. S‑095/2023).
Studiendesign
Es handelt sich um eine qualitative Studie und eine Prozess- und Modellbeschreibung. Das Modell ist zukünftig als Intervention nutzbar.
Arbeitsgruppe
Beim HÄV BW wurde ein multiprofessionelles Team zusammengestellt: Zusätzlich zu AM, SB und NBG befanden sich noch 2 HÄ (w und m) und 3 Mitarbeitende (w, w, m) der Geschäftsstelle in der Arbeitsgruppe, sodass hausärztliche, organisatorische, finanzielle und versorgungsrelevante Belange integriert wurden. Die Berücksichtigung bestehender Versorgungsstrukturen, die Information über zukünftige Versorgungsmodelle mit Einbindung von insbesondere IT-Entwicklungen wie künstliche Intelligenz sowie die Machbarkeit von HÄPPI waren von Anfang an handlungsleitend für die Arbeitsgruppe. Die Berücksichtigung von IT wurde durch eine HÄ, die einen Arbeitsschwerpunkt auf der Implementierung von IT in der hausärztlichen Versorgung hat, sichergestellt (RB-S). Um einen möglichen Interessenkonflikt und die Beeinflussung der Interviews zu verhindern, war SS bis zum Abschluss der Interviewstudie nicht in die Arbeit der Arbeitsgruppe eingebunden. Die Ergebnisse der Interviews wurden von der Arbeitsgruppe aufgenommen und das HÄPPI-Konzept in drei weiteren Workshops konkretisiert.
Workshops der Arbeitsgruppe
Die Workshops wurden in Präsenz (n = 5), hybrid (n = 3) und in einer Videokonferenz (n = 1) unter Moderation von AM durchgeführt. In den Zwischenphasen wurde Ergebnisse durch AM zusammengefasst und anschließend im Umlaufverfahren durch die TN der Arbeitsgruppe bestätigt oder überarbeitet. Die Workshops dauerten jeweils 3–6 h.
Rekrutierung und Durchführung der Interviews mit Expert*innen
Für die Interviews wurden deutschlandweit insgesamt neun exponierte Expert*innen, Wissenschaftler*innen oder Berufsverbandsvertreter*innen aller Gesundheitsberufe, die in einem HÄPPI arbeiten könnten, integriert (medizinische*r Fachangestellte*r, Hausärzt*in, Fachärzt*in, Physician Assistant, Pflegefachkraft, Sozialarbeiter*in). Zusätzlich wurde ein/e Jurist*in und eine Krankenkassenmitarbeiter*in rekrutiert. Die Befragten wurden persönlich kontaktiert und über die Studie informiert. Alle Interviews wurden als Videokonferenzen (Webex by cisco, San José, CA, USA) online gemeinsam durch SSC (Facharzt für Allgemeinmedizin, 10 Jahre Berufserfahrung) und JM (Gesundheitswissenschaftlerin, Gerontologin und medizinisch-technische Assistentin), beide erfahren in der Durchführung und Auswertung qualitativer Studien, durchgeführt. Ziel der gemeinsamen Interviewdurchführung war es, prinzipiell eine interprofessionelle Perspektive mit einzubinden.
Instrumentenbeschreibung Interviewleitfaden
Anhand von Vorarbeiten [13, 18, 22] und nach einer Literaturrecherche (NIH/PubMed®: „interprofessional collaboration“ und „primary care“ und „Germany“) wurde ein Interviewleitfaden entwickelt (Anhang 1). Dieser wurde mittels Think-aloud-Methode angepasst, in 2 Testinterviews pilotiert und anschließend geringfügig angepasst.
Qualitative Datenauswertung
Die Interviews wurden papierbasiert von 2 unabhängigen Wissenschaftler*innen (SS, JM) gesichtet, kategorisiert und induktiv-deduktiv in Anlehnung an Kuckartz et al. [19] ausgewertet. Bei nicht vorhandenem Konsens wurde ein dritter Wissenschaftler (AA) hinzugezogen.
Ergebnisse
Durchführung
Von 9 angefragten Expert*innen standen 8 im geplanten Zeitraum zur Verfügung, ein/e Jurist*in wurde nachrekrutiert. Zwischen dem 01.03.2023 und dem 23.03.2023 konnten insgesamt n = 9 Interviews (45–60 min) ohne Durchführungsprobleme geführt werden. Es wurden folgende Personen befragt: medizinische*r Fachangestellte*r (2 Personen), Hausärzt*in, Fachärzt*in, Physician Assistant, Pflegefachkraft, Sozialarbeiter*in und zusätzlich ein/e Jurist*in und ein/e Krankenkassenmitarbeiter*in (5w, 4m).
Chancen durch ein Betreuungsteam (Interviews)
Aus Sicht der Expert*innen bietet die Versorgung in einem interprofessionellen Betreuungsteam vielfältige Chancen (Tab. 1).
Tab. 1
Chancen durch ein interprofessionelles Betreuungsteama
Ein breiteres Leistungsspektrum aus einer Hand
Bessere Präventionsmöglichkeiten
Ausweitung der Versorgung durch Konzentrierung auf ärztlich notwendige Versorgungsanlässe → komplexere Tätigkeiten für Ärzt*innen, Standardprozeduren werden von anderen Berufsgruppen übernommen
Reduktion von Wiedereinweisungen durch besseres Entlassmanagement/intersektorale Zusammenarbeit (Übergang aus Krankenhaus nach Hause)
Vertrauen in festen Ansprechpartner/Sicherstellung von Kontinuität durch das Team bei zunehmendem Fachkräftemangel und Teilzeittätigkeit
Einbindung von Public-Health-Ansätzen
Verringerung von Wartezeiten in der ambulanten Pflege: Organisation von (Langzeit‑)Pflege könnte im Rahmen vom HÄPPI gemeinsam im Team besprochen werden
Pflegeberatung von Angehörigen könnte besser von einem Betreuungsteam organisiert werden als von Vertreter*innen der Krankenkassen
aDiese Kategorie umfasst alle Aussagen, die Chancen durch Versorgung im interprofessionellen Team beschreiben
Herausforderungen von einem Betreuungsteam (Interviews)
Die Zusammenarbeit im interprofessionellen Team bedeutet aus Sicht der Expert*innen auch Herausforderungen für das Team und die Patient*innen (Tab. 2).
Tab. 2
Herausforderungen durch ein interprofessionelles Betreuungsteama
Dokumentation
Informationsverlust durch schlechte bzw. uneinheitliche Dokumentation
Längere Wartezeiten/Doppeluntersuchung bei lückenhafter Dokumentation
Zeitaufwand und Mehrarbeit durch ausführlichere Dokumentation oder fehlendes einheitliches Dokumentationssystem
Organisation der Zusammenarbeit
Zeitaufwand durch regelmäßig notwendige Absprachen und Rücksprachen
Organisation der Zusammenarbeit
Finden und Etablieren eines Hierarchielevels, das für alle sinnvoll ist
Fehlendes Wissen über die Rollen und Verantwortlichkeiten der Teammitglieder
Haftung und Verantwortung
Durch unklare Rechts- und Haftungslage können evtl. nicht alle Kompetenzen der Teammitglieder genutzt werden
Durch einseitige Delegationsketten wenig Dialog
Umständliche Rückkopplungen oder Arbeiten in „Grauzone“, da Teammitglieder Tätigkeiten ausführen können, aber nicht ohne Anordnung dürfen
Finanzierung und Vergütung
Hohe Anschaffungskosten z. B. durch die Einführung und Nutzung digitaler Lösungen für eine effiziente Dokumentation
Spagat zwischen Pauschalisierung und Einzelleistung
Vergütungsregelungen – wer bezahlt welche Leistungen?
Hohe Kosten durch den Einsatz von akademisiertem Gesundheitspersonal
Nichtakademisierte Kolleg*innen: Rollenkonflikte (von gleich- zu höhergestellten Kolleg*innen; neue Aufgabenbereiche)
Ärzt*innen: Verlust von Kompetenzbereichen und finanzielle Einbußen, Umverteilung von Aufgaben → nur noch komplexe Fälle
aDiese Kategorie umfasst alle Aussagen, die mögliche Herausforderungen im interprofessionellen Team beschreiben
Ziele des HÄPPI
In insgesamt 9 Workshops der Arbeitsgruppe (s. oben) wurde das HÄPPI-Modell entworfen. Die Gesamtübersicht ist angefügt (Anhang 2: HÄPPI-Langversion Vers. 1 vom 19.10.2023). Mit dem HÄPPI werden die folgenden Ziele verfolgt (Tab. 3) und in Arbeitshypothesen zusammengefasst.
Tab. 3
Ziele
Interprofessionelle Versorgung in der Teampraxis fördern
Patientenzentrierung sicherstellen
Steuerung durch Gatekeeping und Vernetzung im Gesundheitswesen
Digitale Konzepte und hybride Versorgung stärken
Gesundheitskompetenz stärken
Ambulantisierung befördern
Mittels interprofessioneller Teampraxisstrukturen im HÄPPI durch Einbindung akademischer Gesundheitsberufe außerhalb der Medizin wie der akademisierten VERAH® oder dem Physician Assistant kann eine ganzheitliche und koordinierte Betreuung für Patient*innen erreicht werden. Grundlegend dafür ist der Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen den HÄPPI-Teammitgliedern. Dieser erfordert Zeit, Engagement und Offenheit aller Beteiligten.
Über die Erhebung von Patient Reported Outcomes (PRO; [20]) für HÄPPI-Patient*innen wird sichergestellt, dass die Patientenperspektive in die medizinische Entscheidungsfindung und die Bewertung der Behandlungsergebnisse einbezogen werden. Die Befragung von Patient*innen ergänzt die Sicht auf Versorgungsprozesse und -ergebnisse und soll eine Patientenzentrierung fördern. Dies erfordert eine standardisierte, benutzerfreundliche und onlinebasierte Evaluationsmöglichkeit. Die PRO sollen dabei als interne Qualitätssicherung dienen und könnten auch zur wissenschaftlichen Auswertung oder in der Außendarstellung zur Ansicht für die Patient*innen genutzt werden.
Im Sinne einer guten hausärztlichen Versorgung steuert das HÄPPI Patientenströme sinnvoll durch Wahrnehmung einer Gatekeeper-Funktion und bietet Schutz vor Über‑, Unter- und Fehlversorgung, was durch eine Einteilung der Patient*innen nach Notwendigkeit eines ärztlichen Kontakts noch umfangreicher möglich wird (s. unten: „Optimierung der Arbeitsprozesse“). Dies wird durch Einbindung in die HZV nach § 73b SGB V erreicht. Zusätzlich findet eine enge Vernetzung mit den an der fachärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzt*innen sowie weiteren Professionen wie Apotheker*innen statt.
Im HÄPPI werden digitale und analoge Leistungen verzahnt. Videokonsultationen und Videokonsile ermöglichen eine flexiblere und komfortablere Art der Gesundheitsversorgung und erweitern die Möglichkeiten zur Interaktion zwischen Patient*innen und HÄPPI-Teams. Triage Tools können die Bewertung des Schweregrads der Symptome von Patient*innen ermöglichen und die Dringlichkeit der Versorgung einschätzen. Self-Check-Inn könnte mehr Zeit für patientennahe Tätigkeiten ermöglichen. Die Anwendung bestehender digitaler Anwendungen bietet Effizienzpotenzial, was bisher wenig genutzt wurde.
HÄPPI-Teams sollen insbesondere bei vulnerablen Gruppen mit niedriger Gesundheitskompetenz durch gezielte Ansprache (Impfaufklärung, klimaresiliente Beratung u. a.) helfen, die Gesundheitskompetenz zu stärken. Menschen mit einer guten Gesundheitskompetenz sind besser in der Lage, Gesundheitsinformationen zu verstehen, zu bewerten und anzuwenden. Mehr Gesundheitskompetenz soll Patient*innen ermöglichen, fundierte Entscheidungen in Bezug auf ihre Gesundheit zu treffen und die empfohlenen Behandlungspläne besser zu befolgen.
HÄPPI können mit der nächsten Entwicklungsstufe in der Lage sein, den Umfang ambulanter Versorgungsoptionen modular zu erweitern, sofern die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen gegeben sind (= HÄPPIplus). Beispielhaft ist eine stationsersetzende Pflege oder eine stationsersetzende Behandlung (wie intravenöse Therapie bei Exsikkose oder Erysipel). Dazu werden weitere Berufsgruppen, wie Therapieberufe, Sozialarbeiter*in und Psychotherapie, eingebunden. Ein zusätzlicher Baustein des HÄPPIplus werden aufsuchende, interprofessionelle Teams für z. B. Informationsangebote für Schüler:innen oder Impfangebote für vulnerable Gruppen sein. Im HÄPPIplus schließen sich entweder einzelne HÄPPI-Praxen in einem Verbund zusammen oder ein einzelner Standort wird deutlich vergrößert. Durch HÄPPIplus wird die Ausweitung ambulanter Gesundheitsleistungen gefördert.
Anbindung an die hausarztzentrierte Versorgung (HZV)
Die HZV bildet die Basis zur Integration des HÄPPI. Die HZV ist geeignet, schnell ein effektives Versorgungskonzept unter Leitung eines Hausarztpraxisteams mit umfassender Reichweite umzusetzen. Ein HÄPPI kann als zentrale oder dezentrale Versorgungsform gestaltet werden, d. h.: HÄPPI kann als zentrales Versorgungsangebot nach dem Prinzip „alles unter einem Dach“ agieren oder auch aus einem Netzwerk herausgebildet werden. Damit soll sich ein HÄPPI flexibel an regionale Versorgungsstrukturen und -bedarfe anpassen können.
Das HÄPPI-Kernteam
Zur Gründung eines HÄPPI ist ein voller hausärztlicher Versorgungsauftrag notwendig. Bei Praxisformen mit mehreren Teilhabenden muss mind. eine Hausärzt*in vorhanden sein, die als hausärztliche Direktion im HÄPPI agiert. Die hausärztliche Direktion kann die Umsetzung der Leitung und/oder Koordination an geeignete HÄPPI-Teammitglieder übertragen. Zum HÄPPI-Kernteam gehören zusätzlich zur hausärztlichen Direktion mindestens eine Person eines nichtärztlichen, akademischen Gesundheitsberufs (z. B. akademisierte VERAH oder Physician Assistent) sowie MFA. Weiterhin sind zusätzlich eine Praxismanager*in und auch eine Servicekraft (z. B. Hotelfachkraft, Fachkraft für Gastronomie o. ä.) sinnvoll. Praxismanager*innen haben neben den patient*innenversorgenden Berufen eine Schlüsselfunktion und sollten Personalmanagement, Finanzmanagement, Patientenmanagement, Qualitätsmanagement und Infrastrukturmanagement unterstützen. Innerhalb des HÄPPI-Teams wird ein starker Fokus auf die Vereinbarung von Regelungen zur Zusammenarbeit gelegt, um eine nahtlose und kooperative Patientenversorgung zu gewährleisten. Hierbei müssen gemeinsam Rollen und Verantwortlichkeiten aller Teammitglieder und der interne Kommunikationsaustausch definiert werden.
Kooperation mit Dritten
Kooperationen können z. B. mit Kommunen, Gesundheitskiosken, öffentlichem Gesundheitsdienst, Apotheken, Therapieberufen, Fachärzt*innen (z. B. Psychiater*innen), Sozialarbeiter*innen und Pflegediensten geschlossen werden. Das zentrale Element der verbindlichen Kooperationen liegt in der Umsetzung der nachfolgenden Anforderungen: Fallbesprechungen, interprofessionelle Qualitätszirkel (Anbindung an Pharmakotherapiequalitätszirkel [PTQZ]), Festlegungen zur Verfügbarkeit innerhalb der medizinischen Notwendigkeit (Umgang mit akuten Konsilen bei abwendbar gefährlichen Verläufen) und Festlegung von Standards für den Informations- und Wissensaustausch.
Optimierung der Arbeitsprozesse
Es ist notwendig, alle Arbeitsprozesse hinsichtlich ihrer Notwendigkeit für ärztliche Arbeitsressource zu hinterfragen. Dies gilt im Verlauf auch für weitere Berufsgruppen (MFA, VERAH, Physician Assistent etc.). Jedes HÄPPI muss für sich einen Weg finden, Kasuistiken, die primär nichtärztlich bearbeitet werden können, zu beschreiben. Dies setzt eine wertneutrale, ausschließlich an medizinischer Relevanz orientierte Einteilung voraus, die z. B. anhand von Dauer und Komplexität der Beratungsanlässe/Erkrankungen erfolgen könnte (Abb. 1). Eine mögliche Einteilung der Aufgaben kann anhand von Arbeitsbereichen erfolgen, die wie folgt definiert und zur Zuordnung genutzt werden könnten: Labor, mobiles Team, Schulungen und Beratungen, Organisation und Administration, Formularwesen, technische Untersuchungen, Anamneseerhebung unter Berücksichtigung des biopsychosozialen Krankheitsmodells, klinische und standardisierte Untersuchungstechniken mithilfe von Scores/Checklisten sowie Anwendungsbereich künstliche Intelligenz/digitale Tools.
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Diskussion
Mit dem HÄPPI ist es gelungen, ein zukunftsorientiertes, modulares und der aktuellen Versorgungssituation angepasstes Modell für die Ausweitung einer versorgungssteuernden hausärztlichen Versorgung in Deutschland im Sinne einer umfassenden Primärversorgung zu entwickeln. Dabei konnten bereits bei der Konzeptualisierung die Perspektiven der an der Primärversorgung beteiligten Berufsgruppen erfolgreich berücksichtigt werden. Durch die Einbindung des HÄPPI an die HZV sind strukturelle Voraussetzungen, wie die feste Anbindung von Patient*innen an eine Praxisstruktur oder Vergütungselemente für die Delegation an andere Berufsgruppen (z. B. Strukturpauschalen für nichtärztliche Behandlung), die hausärztlich abgerechnet werden können, gewährleistet, sodass eine zeitnahe Implementierung in die Regelversorgung nach nur kurzer Pilotierung aussichtsreich ist.
Die Chancen und Herausforderungen für eine interprofessionelle Teampraxis in der Primärversorgung sind beschrieben [21] ebenso wie die Barrieren für kooperative Zusammenarbeit in der Primärversorgung [22]. Neu an dieser explorativen Interviewstudie ist die Befragung in Deutschland sowie eine chancen- und lösungsorientierte Herangehensweise zur konkreten Entwicklung eines machbaren Primärversorgungszentrums unter Einbindung vielfältiger Perspektiven.
Zum Gelingen eines HÄPPI müssen HÄ die Notwendigkeit einer Umstrukturierung der hausärztlichen Versorgung, wie sie in den letzten Jahrzehnten praktiziert worden ist, anerkennen. Deutschlandweit wurden bereits vor mehreren Jahren verschiedene Versorgungsmodelle im Sinne von Pilotmodellen beschrieben [23]: Müller et al. fassen zusammen, dass vor allem ausreichende personelle und finanziellen Ressourcen, tragfähige Organisationsstrukturen und externe Unterstützung durch Politik und Kostenträger den Erfolg eines Modells bedingen. Dahingehend sind im HÄPPI erste Schritte getan. Punktuell gibt es in Deutschland Pilotprojekte wie z. B. die PORT-Praxen [24] und auch in Österreich gibt es Entwicklungen in Sinne einer erweiterten Primärversorgung [25]. Das HÄPPI sollte als Erweiterung eines klassischen medizinischen Versorgungszentrums (MVZ), das regelhaft nicht auf eine primärversorgende Arbeitsweise mit Schutz vor Über‑, Unter-, und Fehlversorgung ausgerichtet ist und regelhaft nicht eine kooperative und kollegiale Einbindung weiterer Gesundheitsberufe anstrebt, verstanden werden. Gleichzeitig berücksichtigt das HÄPPI die Bedeutung von HÄ für die Primärversorgung in Deutschland. Durch die Einbindung weiterer Gesundheitsberufe würde sich auch das Tätigkeitsprofil von HÄ ändern. In einer Analyse in Sachsen wurde beschrieben, dass der Wunsch nach Delegation von Tätigkeiten groß ist, aber tatsächlich nur in geringem Umfang genutzt wird [26].
Zum Aufbau eines HÄPPI müssen HÄ akademisches Gesundheitspersonal, wie z. B. eine VERAH® mit Studium (Bachelor) oder Physician Assistants, sowie bestenfalls auch eine Person für das Praxismanagement anstellen. Weiterhin ist die Erweiterung der Praxisräumlichkeiten notwendig und die Depersonalisierung von Behandlungsplätzen und Zimmern sinnvoll, um in Teilzeit tätiges Personal effektiv über die Räumlichkeiten zu verteilen. Hier ist mit deutlich steigenden Personalkosten zu rechnen, die aus Sicht der Autor*innen durch eine zusätzliche Vergütung zumindest teilweise kompensiert werden müssen. Zusätzlich könnten Homeofficeplätze für telemedizinische Sprechstunden im HÄPPI Bedarfe der jüngeren Generation an neue Arbeitszeitmodelle abbilden und Verwaltungstätigkeiten außerhalb der Praxisräumlichkeiten ermöglichen.
Zur Durchführung eines HÄPPI werden neue und hohe Anforderungen an HÄ im interprofessionellen Team gestellt. Nieuwboer et al. beschrieben 2019 in einem systematischen Review, dass HÄ am ehesten als Leitungskräfte geeignet scheinen [27]. Dafür müssen sie aber Fähigkeiten in Organisation, Prozessmanagement, Mitarbeiterführung und im „change management“ besitzen. Insbesondere eine kooperative Führung in einem multiprofessionellen Team stellt eine Herausforderung dar, sodass ausreichend Fortbildungsmöglichkeiten für HÄ im Sinne eines Führungskräftetrainings entwickelt und ausgebaut werden müssen [28].
Zur Ausnutzung der Effizienz im HÄPPI ist eine Reflektion und Reorganisation sämtlicher Arbeitsprozess notwendig. Das Modell (s. Anhang 2) bietet vielfältige Vorschläge für die Zuordnung von Tätigkeiten an verschiedene Berufsgruppen. Dazu ist auch eine Festlegung der Dokumentation und Kommunikation notwendig, die strukturiert erfolgen sollte [29]. Bei der Anwendung von IT-Technologien bis hin zur künstlichen Intelligenz für z. B. die Organisation der Akut- und Terminsprechstunde ist die Festlegung auf Anwendungen hilfreich, weil es sonst zu einer Zersplitterung kommt [30]. Entscheidend wird auch die Ersteinschätzung („Triage“) sein, für die es Beispiele auch für eine Selbsteinschätzung gibt [31]. Zur Qualitätssicherung im HÄPPI könnten auch Qualitätsindikatoren genutzt werden, wie sie z. B. für die Behandlung von Demenzkranken im interprofessionellen Team entwickelt wurden [32].
In der Zukunft biete das HÄPPI durch die modulare Ausgestaltung die Möglichkeit, mit mehreren Kooperationspartnern, wie Gesundheitskiosken, Pflegeheimen oder Pflegediensten für den Ausbau einer aufsuchenden Behandlung von vulnerablen Gruppen, zu kooperieren. Dieses HÄPPIplus-Modell würde alle zurzeit diskutierten Anforderungen an ein Primärversorgungszentrum erfüllen und könnte in der Kooperation mit Gebietsspezialist*innen auch im Sinne eines Level-1i-Krankenhauses fungieren [33].
Limitationen
Bei der Interviewstudie handelt es sich um eine explorative Analyse mit einzelnen Vertreter*innen diverser Berufsgruppen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erfüllt. Bei der Rekrutierung wurde allerdings sehr genau darauf geachtet, möglichst breit die berufspolitischen und versorgungsrelevanten Sichtweisen aller am HÄPPI (potenziell) beteiligen Berufsgruppen und Expert*innen für die externen Rahmenbedingungen (Krankenkasse, gesetzlicher Rahmen) einzufangen.
Der Prozess in der Arbeitsgruppe wurde nicht von einer externen Person moderiert oder begutachtet. Bei der Durchführung der Workshops wurde dennoch penibel darauf geachtet, alle Perspektiven mit einzubeziehen und zu berücksichtigen. Durch anschließende Korrekturen und Zustimmungen im Umlaufverfahren wurde eine hohe Qualität des Prozesses sichergestellt.
Fazit für die Praxis
Das HÄPPI stellt in Anbindung an die HZV ein realistisches Konzept für eine zukunftsorientierte Primärversorgung dar. Durch die modulare Gestaltung kann es schrittweise umgesetzt werden. Für die Anstellung von höherqualifiziertem Personal ist eine zusätzliche Vergütung erforderlich und rechtliche Rahmenbedingungen müssen weiter konkretisiert werden. Die Einführung stellt Ansprüche an Prozessmanagement, Personalführung und Teamabsprachen sowie die technische Umsetzung. Interprofessionelle Fortbildungsveranstaltungen und modulare Führungskräftetrainings spezifisch für HÄ sollten die Implementierung eines HÄPPI unterstützen.
Danksagung
Für die Mitarbeit in der Arbeitsgruppe danken wir zusätzlich Felix Bareis, Dr. Rita Bangert-Semb, Ronja Rück, Tanja Rommelfangen und dr. med. Lutz Weber. Weiterhin danken wir allen Interviewteilnehmer*innen anonym für ihre Expertise und umfassende Unterstützung.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
S. Schwill, A. Meißner, J. Mink, S. Bublitz, A. Altiner und N. Buhlinger-Göpfarth geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. N. Buhlinger-Göpfarth, S. Bublitz und S. Schwill erhielten als Vorstandsmitglieder eine Vergütung durch den Hausärzteverband Baden-Württemberg. A. Meißner ist festangestellte Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des Hausärzteverbands Baden-Württemberg. J Mink ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Heidelberg. A. Altiner und S. Schwill erhielten Forschungsgelder in Höhe von 26.242 € für die Durchführung der Interviewstudie mit Expert*innen zur Entwicklung des HÄPPI.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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HÄPPI – Konzeption eines Modells für die ambulante Versorgung in Deutschland Hausärztliches Primärversorgungszentrum – interprofessionelle Patientenversorgung
verfasst von
Dr. med. Simon Schwill, MME Anika Meißner Johanna Mink Susanne Bublitz Attila Altiner Nicola Buhlinger-Göpfarth
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Update Allgemeinmedizin
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