Hintergrund
Die globale Prävalenz von Schulterbeschwerden liegt bei bis zu 30 %, womit sie die drittgrößte Gruppe der muskuloskeletalen Beschwerden ausmachen, nach denen der Halswirbelsäule und Lendenwirbelsäule [
4,
10]. Neben dem individuellen Leid der Betroffenen stellen Schulterbeschwerden auch ein erhebliches gesellschaftliches und wirtschaftliches Gesundheitsproblem dar [
2,
38].
In der Therapie von chronischen Schulterbeschwerden sollte eine Vielzahl beeinflussender Faktoren berücksichtigt werden [
14,
21] – insbesondere psychosoziale Faktoren sind ein signifikanter Chronifizierungsfaktor [
19]. Dies können u. a. sozialer Rückzug bei Angststörungen, niedriger sozialer Status, sekundärer Krankheitsgewinn und bewegungsbezogene Ängste sein. Als besonders wichtig haben sich Letztere herausgestellt [
7]. Ein bekanntes Modell, welches den Einfluss eines dauerhaft angstgeleiteten Verhaltens auf die Physis und Psyche darstellt, ist das Fear-avoidance-Modell (FAM; [
35]). Ein anhaltendes Vermeidungsverhalten bestimmter Bewegungen, bspw. aufgrund von Angst, kann zu körperlicher Dekonditionierung bis hin zur Immobilisierung führen. Auch können weitere psychische und kognitive Folgeerscheinungen aufgrund des Angst-Vermeidungs-Verhaltens entstehen, wie z. B. Katastrophisieren [
19].
Auch die Schmerzverarbeitung im nozizeptiven System wird durch Angst und Aufmerksamkeit sensibilisiert, daraus kann eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit resultieren. Bereits bestehende kognitive Schemata werden durch Vermeidungsverhalten fixiert und können bei fehlenden gegenteiligen Erfahrungen auch nicht relativiert werden. Der Einfluss der Angst-Vermeidungs-Überzeugungen auf das Bewegungsverhalten wurde bereits vielfach untersucht und nachgewiesen [
3,
22,
33].
Ein Erheben von Angst-Vermeidungs-Überzeugungen, beispielsweise durch patientenzentrierte Fragebögen, spielt somit eine wichtige Rolle in der Behandlung von chronischen Schmerzsyndromen. Tagliaferri et al. (2020) stellten in einem Review heraus, dass die Berücksichtigung psychologischer Faktoren, wie der bewegungsbezogenen Angst, bei der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen einen deutlichen Mehrwert im Vergleich zur Regelversorgung zeigt [
30]. Eines der international gängigsten Messinstrumente zur Erhebung von bewegungsbezogener Angst ist der Fear-Avoidance Beliefs Questionnaire (FABQ; [
7,
16]). Neben diesem ist bislang einzig die Tampa Scale for Kinesiophobia (TSK-GV), die ein verwandtes Konstrukt (Kinesiophobie) misst, in die deutsche Sprache übersetzt worden [
27]. Beide Skalen beinhalten Items, welche das Vermeidungsverhalten von und Angst vor Bewegungen abfragen. Der FABQ befasst sich allerdings genauer mit den Überzeugungen bezüglich auslösender Ereignisse im Arbeitskontext sowie mit Ängsten bezüglich arbeitsbedingter Bewegungen, weshalb die Untersuchung der Gütekriterien von besonderem Interesse ist [
20,
27]. Die Gütekriterien der deutschen Version des FABQ (FABQ-D) sind von Pfingsten et al. bei Patient*innen mit Kreuzschmerzen ermittelt worden [
19‐
21]. Um den FABQ‑D auch bei Patient*innen mit Schulterbeschwerden einsetzen zu können, müssen die Gütekriterien in dieser Population untersucht werden. Das Ziel dieser Studie ist daher die Untersuchung der Gütekriterien des FABQ‑D bei Patient*innen mit Schulterbeschwerden, um eine Empfehlung zum Einsatz des Messinstruments bei dieser Population aussprechen zu können.
Diskussion
Schmerzgeschehen werden durch psychische Wirkfaktoren begünstigt. Vor allem bei der Chronifizierung von Schmerzen stehen diese inzwischen im Fokus der Forschung. Das Fear-avoidance-Modell bietet einen Erklärungsansatz für die sich bedingenden Faktoren zur Chronifizierung [
34]. Die Betroffenen vermeiden Bewegungen, welche die Schulter beanspruchen, aus Angst vor Schmerzen [
4,
31]. Das Erheben von Angst-Vermeidungs-Überzeugungen durch den FABQ‑D kann dazu beitragen, dass diese Wirkfaktoren für die Beschwerden der Patient*innen von den Behandelnden erfasst werden und somit in die Behandlung integriert werden können.
Die interne Konsistenz des FABQ‑D kann mit
α = 0,88 als gut bewertet werden. Dennoch lässt die hohe interne Konsistenz vermuten, dass ein Ausschluss von Items aus der Skala vorgenommen werden könnte, um diese effizienter zu machen [
32]. Hier würden sich die Items 5, 8 und 16 aus den in den Ergebnissen genannten Gründen anbieten. Eine Umstrukturierung der Subskalen oder ein Ausschluss dieser Items wären mögliche Schritte.
Die A‑priori-Hypothesen konnten nicht ausreichend bestätigt werden. Dies ist ein Hinweis auf eine geringe Konstruktvalidität des FABQ‑D. Erklärt werden kann dies durch die ambitionierte Formulierung der Hypothesen in Bezug auf die Höhe des Korrelationskoeffizienten. Die Ergebnisse der Subgruppenanalyse überraschen, da sie konträr zur bestehenden Literatur sind [
5,
23,
25]. Interessant ist der Einfluss der körperlichen Beeinträchtigung (gemessen am SPADI) und der Beschwerdedauer auf die Bewertung des FABQ‑D. Beide Prädiktoren haben einen signifikanten Einfluss auf die Angst-Vermeidungs-Überzeugungen. Hinzu kommt der deutliche Einfluss der bewegungsbezogenen Angst, erhoben in den Dimensionen Angst-Vermeidungs-Überzeugungen (FABQ-D) und Kinesiophobie (TSK-GV), auf die Dauer der Beschwerden der Proband*innen.
Die Ergebnisse dieser Studie sind vergleichbar zu vorangegangen Studien bei denen die Reliabilität (interne Konsistenz) und Validität des FABQ‑D sowie der englischsprachigen Version untersucht wurden [
12,
21]. Verglichen mit der Studie von Pfingsten et al. (1997), die den FABQ‑D an einer Population mit Kreuzschmerzen (LBP) untersuchte, war die Stichprobe dieser Studie deutlich kleiner (LBP:
n = 87; Schulter:
n = 49; [
21]). Die mittlere Schmerzintensität der Proband*innen war zudem bei der Studie von Pfingsten et al. höher (LBP: 6,4; Schulter: 3,88) und die Dauer der Beschwerden erheblich länger (LBP: 146,8 Monate; Schulter: 32,55 Monate). Die Werte der internen Konsistenz sind vergleichbar (LBP:
α = 0,85; Schulter:
α = 0,88). In beiden Studien zeigten sich die Divergenz zur Schmerzintensität. Außerdem zeigten sich Zusammenhänge zwischen der körperlichen Beeinträchtigung sowie der Schmerzdauer und der Bewertung des FABQ‑D. Im Gegensatz zur LBP-Studie konnte in dieser Studie ein Alterseffekt dargestellt werden. Es bleibt offen, ob Schulterbeschwerden und Rückenschmerzen in Bezug auf psychologische Einflussfaktoren vergleichbar sind [
39].
Der FABQ‑D scheint, auf Grundlage der vorgestellten Gütekriterien, ein geeigneteres Messinstrument zur Erhebung der bewegungsbezogenen Angst bei Schulterbeschwerden zur sein als die TSK-GV [
15]. International werden zur Erfassung bewegungsbezogener Ängste vor allem die Fragebögen FABQ und TSK eingesetzt [
16]. Vergleicht man die psychometrischen Eigenschaften der deutschen Versionen in Bezug auf Schulterbeschwerdepatient*innen, so zeigt sich eine Überlegenheit des FABQ‑D. Der FABQ‑D (
α = 0,88) weist eine höhere interne Konsistenz auf als die TSK-GV (
α = 0,81). Des Weiteren konnte für den FABQ‑D sowohl die divergente als auch die konvergente Validität auf Itemebene bewiesen werden. Die TSK-GV erfüllt die Bedingungen der konvergenten Validität auf Itemebene nicht und weist somit eine geringere Strukturvalidität auf als der FABQ‑D. Beide Fragebögen können im Rahmen der Hypothesentestung keine gute Konstruktvalidität aufweisen, wobei der Wert des FABQ‑D mit 42,87 % angenommener Hypothesen deutlich über dem der TSK-GV (28,57 %) liegt. Interessant ist, dass die Regressionsmodelle gezeigt haben, dass der FABQ‑D sich vor allem von der Beschwerdedauer, aber auch von der funktionellen Beeinträchtigung (SPADI-Wert) beeinflusst wird. Die TSK-GV wird am stärksten durch die Beschwerdedauer beeinflusst [
17].
Der FABQ‑D fragt das Konstrukt der Angst-Vermeidungs-Überzeugungen ab, wohingegen das Konstrukt der TSK-GV die Kinesiophobie ist. Inwieweit die Konstrukte vergleichbar sind, bleibt zu diskutieren. Es kann aber behauptet werden, dass beide Konstrukte (übergeordnet) bewegungsbezogene Ängste erfassen [
7,
11].
Die Überlegenheit des FABQ gegenüber der TSK zur Erfassung der bewegungsbezogenen Angst bei Schulterbeschwerden stellten bereits Mintken et al., welche die englischsprachigen Versionen bei Schulterbeschwerden verglichen, dar [
12].
In der Zukunft wäre eine weitere Untersuchung der psychometrischen Eigenschaften des FABQ‑D sinnvoll. Interessant wäre hier neben den in dieser Studie bereits durchgeführten Berechnungen auch die Analyse der Änderungssensitivität. Hierbei sollten vor allem weitere Populationen (z. B. Nackenschmerzen) in Betracht gezogen werden. Insbesondere eine Untersuchung der Zusammenhänge zu weiteren psychologischen Messinstrumenten wäre hier ein naheliegender nächster Schritt, um das beste Messinstrument für den klinischen Einsatz herauszuarbeiten. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass der FABQ‑D zur Erhebung der Angst-Vermeidungs-Überzeugungen bei Patient*innen mit Schulterbeschwerden geeignet ist, auch wenn die Ergebnisse aufgrund der eingeschränkten Konstruktvalidität vorsichtig zu bewerten sind. Der FABQ‑D ist ein ökonomisches Messinstrument, welches von den Patient*innen selbständig ausgefüllt werden kann und in der Praxis ergänzend zur Untersuchung bei chronischen Schulterbeschwerden eingesetzt werden kann. Er dient dazu, Angst-Vermeidungs-Überzeugungen, welche zur Chronifizierung von Beschwerden beitragen, herauszuarbeiten und darauf aufbauend eine passende, individualisierte Behandlung aufzubauen.
Der Einfluss psychischer Wirkfaktoren auf die Beschwerden der Patient*innen sollte auch in weiterführenden Studien untersucht werden, da diese im Praxisalltag immer häufiger erhoben und stärker berücksichtigt werden [
8,
21]. In dieser Studie konnte dargelegt werden, dass das Ausmaß der Angst-Vermeidungs-Überzeugungen signifikant mit der Beschwerdedauer zusammenhängt. Dabei könnte sich der Einsatz von „behaviour change techniques“ (BCT) oder anderen verhaltensorientierten Maßnahmen in der Therapie positiv auf das Behandlungsergebnis der Betroffenen auswirken [
1]. Um eine bestmögliche Betreuung der Betroffenen zu gewährleisten, wäre ein verstärkter interdisziplinärer Ansatz (z. B. Physiotherapie und Psychotherapie) möglich. Die Literatur zeigt, dass es einen deutlichen Mehrwert in der Versorgung chronischer Schmerzpatient*innen durch den Einbezug psychologischer Faktoren gibt [
30].
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