Skip to main content
Erschienen in: Die Psychotherapie 1/2023

29.12.2022 | Psychotherapie und Gesellschaft

Gewissen im 21. Jahrhundert – Potenziale eines veralteten Begriffs

Vortrag zur Eröffnung der 51. Lübecker Psychotherapietage „Gewissen – mehr oder weniger“

verfasst von: Prof. Dr. med. Cornelius Borck

Erschienen in: Die Psychotherapie | Ausgabe 1/2023

Einloggen, um Zugang zu erhalten

Zusammenfassung

Gewissen ist ein altmodisch klingender Begriff, statt von Gewissen wird heute zumeist von Verantwortung gesprochen. Verantwortung soll übernommen werden, am besten auf der Grundlage von evidenzbasierten, rationalen Leitlinien. Im Zentrum aktueller Konzepte von Verantwortung steht ein aufgeklärtes, um seine Gefühle und Bedürfnisse wissendes Selbst, das aus diesem Wissen heraus bewusst und auf die Folgen bedacht entscheidet. Bezeichnenderweise rekurriert Gewissen nicht auf ein autonomes Selbst, sondern impliziert eine zweite Instanz im Ich. Gewissen verweist auf einen inneren Einspruch. Daraus resultiert einerseits der besondere Freiraum der Gewissensentscheidung, andererseits artikulieren sich im Gewissen insbesondere gesellschaftliche Normen und kulturgebundene Verbote. Damit wird klar, dass gegen die aktuelle Dominanz von Autonomie und Verantwortung nicht einfach das ältere Modell des Gewissens wiederbelebt werden kann, sondern vielmehr beide Modelle ihre Ambivalenzen haben. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Überforderung des postmodernen Ich, sich permanent selbst verwirklichen zu müssen. Wie viel Gewissen wir brauchen, können Philosophie und Wissenschaftsgeschichte nicht beantworten. Aber sie können erläutern, welche Konzepte hinter dem Begriff „Gewissen“ stehen, welche Wege die Idee einer inneren Stimme historisch eingeschlagen hat und welche Effekte dabei freigesetzt wurden.
Fußnoten
1
Das Süddeutsche Zeitung Magazin brachte die Kolumne „Die Gewissensfrage“ von 2002 bis 2018. Die hier genannten Titel sind weiterhin auf der Website von Süddeutsche Zeitung zu finden; Süddeutsche Zeitung (2022).
 
2
So lautete das Thema der 51. Lübecker Psychotherapietage vom 09.–13.10.2022.
 
3
Kittsteiner: Gewissen und Geschichte. A.a.O, S. 21.
 
4
Fernsehansprache von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18.03.2020 (Bundesregierung 2020).
 
5
Das italienische „coscienza“ oszilliert zwischen Bewusstsein und Gewissen.
 
Literatur
Zurück zum Zitat Beyer C, Borck C, Kühne N, Lingelbach G, Löffelbein N (2022) Wissenschaftliche Untersuchung zu Formen von Leid und Unrecht bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Jahren 1949 bis 1990. Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Lübeck Beyer C, Borck C, Kühne N, Lingelbach G, Löffelbein N (2022) Wissenschaftliche Untersuchung zu Formen von Leid und Unrecht bei der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in schleswig-holsteinischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Jahren 1949 bis 1990. Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung, Lübeck
Zurück zum Zitat Ehrenberg A (2004) Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus, Frankfurt am Main Ehrenberg A (2004) Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Campus, Frankfurt am Main
Zurück zum Zitat Goethe JW (1982) Die Wahlverwandtschaften. In: Romane und Novellen I. Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 6. Beck, München, S 307 Goethe JW (1982) Die Wahlverwandtschaften. In: Romane und Novellen I. Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 6. Beck, München, S 307
Zurück zum Zitat Grimm J, Grimm W (1984) Getreide – gewöhniglich. Deutsches Wörterbuch, Bd. 6. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München (Spp. 6213–6340) Grimm J, Grimm W (1984) Getreide – gewöhniglich. Deutsches Wörterbuch, Bd. 6. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München (Spp. 6213–6340)
Zurück zum Zitat Hegel GWF (1986) Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Werke, Bd. XVIII. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 441 u. 456fCrossRef Hegel GWF (1986) Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Werke, Bd. XVIII. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 441 u. 456fCrossRef
Zurück zum Zitat Euripides (1949) Orestes. Engelmann, Leipzig, S 37ff (Griechisch mit metrischer Uebersetzung und prüfenden und erklärenden Anmerkungen von J. A. Hartung) Euripides (1949) Orestes. Engelmann, Leipzig, S 37ff (Griechisch mit metrischer Uebersetzung und prüfenden und erklärenden Anmerkungen von J. A. Hartung)
Zurück zum Zitat Kant I (1983) Metaphysik der Sitten. Werke in zehn Bänden, Bd. VII. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S 572–574 Kant I (1983) Metaphysik der Sitten. Werke in zehn Bänden, Bd. VII. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S 572–574
Zurück zum Zitat Kittsteiner HD (1990) Gewissen und Geschichte: Studien zur Entstehung des moralischen Bewußtseins. Manutius, Heidelberg, S 15 Kittsteiner HD (1990) Gewissen und Geschichte: Studien zur Entstehung des moralischen Bewußtseins. Manutius, Heidelberg, S 15
Zurück zum Zitat Kolb S et al (1998) Medizin und Gewissen: 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß. Mabuse, Frankfurt am Main Kolb S et al (1998) Medizin und Gewissen: 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß. Mabuse, Frankfurt am Main
Zurück zum Zitat Luhmann N (1973) Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit. In: Böckle F, Böckenförde E‑W (Hrsg) Naturrecht in der Kritik. Matthias-Grünewald, Mainz, S 223–243 (hier S 232) Luhmann N (1973) Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit. In: Böckle F, Böckenförde E‑W (Hrsg) Naturrecht in der Kritik. Matthias-Grünewald, Mainz, S 223–243 (hier S 232)
Zurück zum Zitat Platon (1973) Apologie des Sokrates, 31d. In: Werke, Bd. 2. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S 41 (hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Freidrich Schleiermacher) Platon (1973) Apologie des Sokrates, 31d. In: Werke, Bd. 2. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S 41 (hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Freidrich Schleiermacher)
Zurück zum Zitat Svevo I (2011) Zenos Gewissen. Manesse-Verlag, Zürich (aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner) Svevo I (2011) Zenos Gewissen. Manesse-Verlag, Zürich (aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner)
Zurück zum Zitat Thome H, Terpe S (2012) Das Gewissen – (k)ein Thema für die Soziologie? Z Soziol 41(4):258–276CrossRef Thome H, Terpe S (2012) Das Gewissen – (k)ein Thema für die Soziologie? Z Soziol 41(4):258–276CrossRef
Metadaten
Titel
Gewissen im 21. Jahrhundert – Potenziale eines veralteten Begriffs
Vortrag zur Eröffnung der 51. Lübecker Psychotherapietage „Gewissen – mehr oder weniger“
verfasst von
Prof. Dr. med. Cornelius Borck
Publikationsdatum
29.12.2022
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Psychotherapie / Ausgabe 1/2023
Print ISSN: 2731-7161
Elektronische ISSN: 2731-717X
DOI
https://doi.org/10.1007/s00278-022-00632-8

Weitere Artikel der Ausgabe 1/2023

Die Psychotherapie 1/2023 Zur Ausgabe

Schwerpunkt: Nonverbale Aspekte in Psychotherapie-Prozessen - Übersichten

Interpersonelle Prozesse während des Imagery Rescripting

Schwerpunkt: Nonverbale Aspekte in Psychotherapie-Prozessen - Originalien

iCAST: Ein praktisches Modell für die Integration nonverbaler Signale in die Psychotherapie

Schwerpunkt: Nonverbale Aspekte in Psychotherapie-Prozessen - Übersichten

Embodiment in der therapeutischen Kommunikation

ADHS-Medikation erhöht das kardiovaskuläre Risiko

16.05.2024 Herzinsuffizienz Nachrichten

Erwachsene, die Medikamente gegen das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom einnehmen, laufen offenbar erhöhte Gefahr, an Herzschwäche zu erkranken oder einen Schlaganfall zu erleiden. Es scheint eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zu bestehen.

Typ-2-Diabetes und Depression folgen oft aufeinander

14.05.2024 Typ-2-Diabetes Nachrichten

Menschen mit Typ-2-Diabetes sind überdurchschnittlich gefährdet, in den nächsten Jahren auch noch eine Depression zu entwickeln – und umgekehrt. Besonders ausgeprägt ist die Wechselbeziehung laut GKV-Daten bei jüngeren Erwachsenen.

Darf man die Behandlung eines Neonazis ablehnen?

08.05.2024 Gesellschaft Nachrichten

In einer Leseranfrage in der Zeitschrift Journal of the American Academy of Dermatology möchte ein anonymer Dermatologe bzw. eine anonyme Dermatologin wissen, ob er oder sie einen Patienten behandeln muss, der eine rassistische Tätowierung trägt.

Spezielles Sportprogramm bei einer Reihe von psychischen Erkrankungen effektiv

08.05.2024 Psychotherapie Nachrichten

Sportliche Betätigung hilft nicht nur bei Depression, sondern auch in Gruppen von Patientinnen und Patienten mit unterschiedlichen psychischen Erkrankungen, wie Insomnie, Panikattacken, Agoraphobie und posttraumatischem Belastungssyndrom. Sie alle profitieren längerfristig.