Hintergrund
Seit Mitte der 1980er-Jahre ist der Justizvollzug zunehmend mit viralen und bakteriellen Infektionskrankheiten wie dem erworbenen Immunschwächesyndrom (Acquired Immune Deficiency Syndrome, AIDS), Hepatitiden (A, B und C), sexuell übertragbaren Krankheiten (Sexually Transmitted Diseases, STI) und Tuberkulose konfrontiert. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sind bestimmte Schlüsselgruppen, wie aktuell und ehemalig injizierende Drogenkonsument*innen (People Who Inject Drugs, PWID) sowie mit Hepatitis-C-Virus (HCV) und mit dem humanen Immundefizienz-Virus (HIV) Infizierte, in deutschen Haftanstalten deutlich überrepräsentiert [
1]. Auch die Prävalenz von Hepatitis B unter PWID liegt bei 25 %, damit also 5‑mal höher als in der deutschen Allgemeinbevölkerung [
2]. Die erste bundeseinheitliche Erhebung zur stoffgebundenen Suchtproblematik im Justizvollzug ergab, dass von 41.896 erfassten Gefangenen 44 % eine stoffgebundene Suchtproblematik zum Zeitpunkt des Haftantritts aufweisen [
3]. Ein erheblicher Teil der Gefangenen setzt seinen Drogenkonsum auch in Haft fort [
4]. Eine Studie zeigte, dass 30 % der Teilnehmenden mit Hafterfahrung auch innerhalb der Haft Drogen injizierten und dass 11 % der Teilnehmenden mit Drogenkonsum in Haft während der Inhaftierung mit dem injizierenden Konsum begannen [
5]. Des Weiteren gehören Infektionserkrankungen zu den häufigsten Gesundheitsstörungen im Strafvollzug. Gefangene sind im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 48- bis 69-mal häufiger mit Hepatitis C und 7‑ bis 12-mal häufiger mit HIV infiziert [
6]. Es wurde zudem eine Assoziation zwischen HCV-Infektion und Hafterfahrung für PWID festgestellt; mit steigender Haftdauer und Häufigkeit der Inhaftierungen stieg die HCV-Prävalenz [
2]. Die Assoziation von HCV- bzw. HIV-Infektionen und Inhaftierung für PWID wurde in einer Studie in 17 europäischen Ländern bestätigt [
7]. Menschen in Haft gehören somit zu den besonders vulnerablen Gruppen in Bezug auf HIV- und/oder HCV-Infektionen [
8]. Die Anzahl der in Deutschland bisher im Justizvollzug antiviral behandelten Gefangenen ist verglichen mit der anzunehmenden Prävalenz niedrig [
9].
Die Vereinten Nationen (UN) haben nun unter Ziel 3.3 erstmalig auch die Beendigung von HIV und HCV als Bedrohung der öffentlichen Gesundheit in die nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) der Agenda 2030 aufgenommen [
10].
Festgeschrieben wurde, dass bis zum Jahr 2030 90 % aller HCV-Infizierten diagnostiziert und 80 % der Behandlungsbedürftigen behandelt sind. Des Weiteren wird eine Reduktion der HBV- und HCV-Inzidenzen um 90 % sowie der HBV- und HCV-assoziierten Todesfälle um 65 % im Vergleich zu 2015 angestrebt [
10]. In Deutschland wurde 2016 als Rahmen für die Umsetzung der Ziele der Agenda 2030 die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie verabschiedet und im Anschluss daran für eine nachhaltige Eindämmung von HIV, Hepatitis B und Hepatitis C vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) die „Strategie zur Eindämmung von HIV, Hepatitis B und C und anderen sexuell übertragbaren Infektionen bis 2030“ (BIS2030) vorgelegt [
11].
Seit der Verabschiedung der Agenda 2030 sind 6 Jahre, seit der Zulassung der neuesten Generation direkt wirkender antiviraler Medikamente (Direct Acting Antivirals, DAAs) bereits 8 Jahre vergangen. Generell wird bei einem Verdacht auf HCV das Blut des/der Patient*in zunächst auf HCV-Antikörper getestet. Können diese nachgewiesen werden, wird mittels Virus-RNA-Test geprüft, ob es sich um eine ausgeheilte oder akute Infektion handelt [
12]. Die Therapie von HCV dauert heute – weitestgehend nebenwirkungsfrei und bei > 95 % Heilungschancen – bei Patient*innen im nicht-zirrhotischem Stadium durchschnittlich 12 Wochen [
13,
14] und bei Patient*innen im zirrhotischem Stadium 14 Wochen [
15]. Zwölf Wochen nach Ende der Therapie wird das Blut noch einmal auf HCV-RNA getestet, um einen dauerhaften Therapieerfolg festzustellen [
12].
Neueste Daten belegen eine günstige Preisentwicklung bei DAAs, welche bei ihrer Zulassung noch sehr kostenintensiv waren. Inzwischen sind die Kosten einer HCV-Therapie durch günstigere Medikamente und eine kürzere Behandlungsdauer deutlich gesunken [
15].
Die Voraussetzungen für eine tatsächliche Eliminierung von HCV sind daher grundsätzlich sehr gut, dennoch scheint sie in Deutschland vor allem mit Blick auf bestimmte Schlüsselgruppen unrealistisch [
16,
17]. Vor diesem Hintergrund ergibt sich auch die Frage nach der aktuellen Situation in Justizvollzugsanstalten (JVAen) in Deutschland.
Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über die aktuellen Datenerhebungs- und Diagnostikmethoden der Bundesländer sowie, soweit vorhanden, die aktuellen HCV-Behandlungs- und Behandlungsabschlussprävalenzen von Gefangenen in Deutschland, die mithilfe von Kurzbefragungen der Justizministerien erhoben wurden. Im Anschluss daran werden die durch Expert*inneninterviews erhobenen Barrieren und Chancen für die HCV-Behandlung in Haft dargestellt, vor dem Hintergrund der Eliminierungsziele diskutiert und abschließend Handlungsempfehlungen für den Zeitraum bis 2030 formuliert.
Fazit und Handlungsansätze
Der Justizvollzug bietet durch die obligatorische Aufnahmeuntersuchung durch Vollzugsärzt*innen sowie die Möglichkeit der regelmäßigen Beratung grundlegend optimale Rahmenbedingungen für eine HCV-Testung und -Behandlung. Insbesondere die Zielgruppe der Drogengebrauchenden, der oft eine geringe Compliance zugeschrieben wird, könnte in einer geschlossenen Institution gut erreicht werden [
19]. Insgesamt ist jedoch zunächst die Datenlage zu HCV-Testungen, -Testergebnissen, Behandlungsbeginnen sowie Behandlungsabschlüssen in deutschen JVAen zu verbessern. In keinem der hier teilnehmenden 8 Bundesländer lagen vollständige Daten hierzu vor.
Die Ergebnisse zeigen weiterhin, dass im Umgang mit HCV (Prävention, Testung, Behandlung) die möglichen Potenziale des Justizvollzugs bisher nicht vollständig genutzt werden. Aus den Expert*inneninterviews können Ansätze für Handlungsempfehlungen aufgezeigt werden, die zu einer besseren Versorgung führen können. Im Rahmen der Prävention sollte die Vermeidung einer HCV-Infektion adressiert werden, z. B. auch durch die anonyme Vergabe von Konsummaterialen. Weiterhin sollten Aufklärungskampagnen bezüglich der Ansteckungswege und Behandlungsoptionen für Mitarbeiter*innen und Inhaftierte durchgeführt werden. Im Kontext der Testung sollte allen Inhaftierten zu verschiedenen Zeitpunkten während der Inhaftierung ein Testangebot gemacht und im Anschluss sichergestellt werden, dass ein positives Ergebnis nicht in der Gefangenenpersonalakte vermerkt wird. Ein Vermerk bezüglich einer Infektionsgefahr bei Blutkontakt kann zu Stigmatisierung der Betroffenen auf der einen und zu einem unberechtigten Sicherheitsgefühl der Mitarbeiter*innen auf der anderen Seite führen. Darüber hinaus sollten unabhängige Gesundheitsberatungen in Haft durch externe Anbieter*innen erfolgen, ggf. auch mit der Möglichkeit einer HCV-Testung sowie von Aktionswochen, in denen sich Gefangene freiwillig testen lassen können. Letzteres könnte zudem zu einer flächendeckenden Aufklärung und Beratung über die Behandlung und die damit einhergehenden Nebenwirkungen beitragen. Um die Behandlungsprävalenz in JVAen zu erhöhen, könnte es laut Expert*innen zielführend sein, wenn flächendeckend unabhängige Anstaltsärzt*innen eingesetzt und damit einhergehend die Kosten der Behandlungen von der GKV anstatt über die finanziellen Mittel der Justiz übernommen werden würden. Solange dies nicht umsetzbar ist, sollten sich Anstaltsärzt*innen proaktiver für eine Testung und anschließende Behandlung einsetzen und Angebote geschaffen werden, welche die Mehrfachbelastungen von Patient*innen in Haft berücksichtigen und adressieren. Somit könnte die Grundlage dafür geschaffen werden, dass Gefangene bereit sind, eine HCV-Behandlung innerhalb der Haft zu beginnen.
Das auch international Handlungsbedarf besteht, zeigt ein 2021 veröffentlichtes Review [
20]. So haben von 124 Ländern mit HCV-Strategien nur 28 spezifische Pläne zur Minimierung der HCV-Prävalenz in Haft. Als potenzielle Lösungen genannt werden unter anderem schnellere Diagnosen durch
Point of Care Testing (ermöglicht die Probenentnahme durch Fingerstich oder Speicheltestung und eine direkte Auswertung der Probe vor Ort),
Peer-Support-Gruppen (um das Stigma um HCV zu verringern) und die Vorbereitung vor Haftentlassung im Kontext von HCV-Prävention. Relevant für die aktuelle Situation in Deutschland ist auch, dass die Autor*innen des Reviews die Bedeutung flächendeckend erhobener Daten zur HCV-Prävalenz in Haft besonders hervorheben: Ohne diese Daten fehle oft der politische Wille für eine gezielte Strategie [
20,
21]. In Australien wurden jüngst Richtlinien des
National Prison Hepatitis Network der Regierung vorgelegt, die flächendeckende Tests, schnelle Diagnostik und die Vergabe von Konsummaterialen sowie eine Intensivierung der Opioidsubstitutionstherapie fordern [
22].
Aktuell startet in NRW und Hessen ein in einer länderübergreifenden Arbeitsgruppe entwickeltes Modellprojekt, das Wege aufzeigen soll, wie die HCV-Behandlungsquoten durch Standards im Bereich der Prävention, Diagnostik und Therapie erhöht werden können [
20]. Um die Eliminierungsziele der UN zu erreichen, muss in einem integrierten Vorgehen auch die Situation in Haft mitbedacht werden und neben einer Ausweitung des Test- und Behandlungsangebotes der Fokus auf die Bereitstellung indirekter und direkter infektionsprophylaktischer Maßnahmen gelegt werden. Hierfür sollten Bund, Länder und Kommunen gemeinschaftlich und evidenzbasiert handeln – sowohl was die Bedingungen in Haft angeht als auch außerhalb.
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