Hintergrund
Tinnitus ist gekennzeichnet durch die Wahrnehmung eines Tons ohne korrespondierenden externalen Stimulus. In der Allgemeinbevölkerung sind 10–15 % von Ohrgeräuschen betroffen [
1]. Ein Teil der Betroffenen ist durch den Tinnitus erheblich beeinträchtigt (bis zu 4 %; [
2‐
4]). Die Ohrgeräusche können mit Konzentrationsproblemen, Schlafstörungen, Depression und Angststörungen einhergehen [
5,
6]. Die weite Verbreitung von Smartphones und die vielfältigen technologischen Möglichkeiten, mobile Anwendungen (Applikationen, Apps) zu gestalten, stellt ein großes Potenzial dar, um den Zugang zu evidenzbasierten Interventionen zu erleichtern und damit langfristig die Versorgungssituation zu verbessern [
7‐
9]. Online-Interventionen und Apps könnten als wirksames Selbsthilfeinstrument genutzt werden, aber auch eine sinnvolle Ergänzung von etablierten Therapieverfahren darstellen (z. B. Begleitung der ambulanten Behandlung, Überbrückung von Wartezeiten auf Psychotherapie). Damit haben sie das Potenzial, Kosten zu reduzieren und die Wirksamkeit von Behandlungen zu verbessern [
10]. Gleichzeitig birgt der Einsatz von internetbasierten Verfahren neue Herausforderungen und potenzielle Risiken. So sind Datensicherheit, Qualität, Wirksamkeit, Risiken in der Anwendung bzw. mögliche negative Effekte wichtige Aspekte, die berücksichtigt werden müssen [
10‐
12].
Die große Zahl von Tinnitus-Apps weist auf das Bedürfnis der Betroffenen nach niedrigschwelligen und leicht zugänglichen Unterstützungsangeboten hin [
8,
13‐
16]. Für Betroffene und Behandelnde ist es jedoch gleichermaßen schwierig, die Qualität von Gesundheits-Apps einzuschätzen. Laut einer aktuellen Studie [
17] erlauben die Beschreibungen in den App-Stores in 70–80 % der analysierten Apps keine Qualitätsbewertung anhand medizinischer Kriterien. Auch die User-Bewertungen sind keine verlässliche Quelle für Qualitätseinschätzungen [
18]. Vor diesem Hintergrund wurden verschiedene Instrumente entwickelt, die eine erste orientierende Bewertung der Qualität von Gesundheits-Apps durch unabhängige Expert:innen erlauben [
7,
19,
20]. Die häufig eingesetzte Mobile App Rating Scale (MARS) fungiert als Qualitätsscreeninginstrument [
20,
21].
Während international bereits erste Übersichtsarbeiten zur Qualität von Apps auf Basis der MARS existieren, die auch Apps für Tinnitusbetroffene berücksichtigen [
8,
16,
22], liegt für deutschsprachige Apps keine systematische Übersicht vor. In den 3 Studien ist die Varianz in der Qualität der Apps auffällig, wobei die Qualität der Funktionalität (z. B. Usability) höher ausfällt als beispielsweise die Qualität der Informationen. Einschränkend ist zu erwähnen, dass in einer der Studien nicht nur Apps für Tinnitus, sondern auch Apps zur Vermittlung von Strategien der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) analysiert wurden [
16], dass in der zweiten Studie die Generalisierbarkeit der Ergebnisse durch eine Vorauswahl beliebter Apps einschränkt wird [
8] und dass in die dritte Studie Apps für Tinnitus gemeinsam mit Apps gegen Gleichgewichtsstörungen in die Analyse eingingen [
22].
Während Instrumente wie die MARS über allgemeine Qualitätsmerkmale informieren und dabei auf digitale Merkmale fokussieren, sind Informationen zu den konkreten, krankheitsspezifischen Interventionselementen einer App nicht abgedeckt. Insbesondere für Behandelnde ist dies jedoch wichtig, um beispielsweise Apps zur Selbsthilfe zu empfehlen oder sie in ein therapeutisches Gesamtkonzept integrieren zu können [
8]. Bisherige Studien beschreiben die implementierten Interventionselemente in Apps mit vergleichsweise groben Kategorien, z. B. „tinnitus management“, „tinnitus assessment and measurement“ oder „sound therapy“ [
13,
14,
16], was die Aussagemöglichkeit zu deren konkreten Inhalten einschränkt. Eine detaillierte Analyse der Interventionselemente in Tinnitus-Apps findet sich bei Sereda und Kolleg:innen [
8]. Allerdings handelte es sich in dieser Studie um eine Auswahl beliebter Apps zum Tinnitusmanagement, die aber nicht unbedingt spezifisch für Tinnitus entwickelt wurden (z. B. auch Apps zur Förderung von Schlaf, Entspannung). Eine systematische und detaillierte Analyse der über Apps angebotenen Interventionselemente (z. B. Nutzung von Hörtaktiken, Einsatz von Geräuschen oder Übungen zur Aufmerksamkeitslenkung) wurde nach unserem Wissen bislang weder national noch international vorgenommen.
Eine dritte Perspektive auf Apps bietet die Analyse der eingesetzten Techniken der Verhaltensänderung (Behavior Change Techniques [BCTs]) von Michie und Kollegen [
23]. Mit dieser Taxonomie wurde ein vielbeachteter Standard entwickelt, der diagnoseübergreifend die Identifikation der „active ingredients“ von komplexen Interventionen erlauben soll. Die Beschreibung von Interventionen entlang der eingesetzten BCTs verspricht (a) Replikationen in der Interventionsforschung zu erleichtern, (b) die originalgetreue Implementierung wirksamer Interventionen sicherzustellen, (c) systematische Reviews und Metaanalysen zur Wirksamkeit dieser Techniken zu ermöglichen, (d) die Entwicklung von Interventionen zu erleichtern und (e) die Wirkmechanismen besser zu verstehen, um Interventionen systematisch und kontinuierlich verbessern zu können [
23]. Während das National Institute for Health Care and Excellence (NICE) im Vereinigten Königreich von Anbieter:innen digitaler Anwendungen explizit verlangt, dass evidenzbasierte BCTs bei der Interventionsentwicklung berücksichtigt und dokumentiert werden [
24], gilt dies in Deutschland bislang nur für Anbieter:innen von digitalen Präventions- und Gesundheitsförderungsangeboten in der Individualprävention [
25]. Eine Analyse der in Tinnitus-Apps eingesetzten BCTs liegt bislang nicht vor.
Ziel dieser Untersuchung war es daher: a) verfügbare Tinnitus-Apps in deutscher Sprache zu identifizieren, b) die Qualität anhand der deutschen Version der MARS‑G [
21] zu analysieren sowie c) enthaltene Interventionselemente und d) eingesetzte BCTs [
23] zu identifizieren.
Methoden
Die Studie wurde im Open Science Framework (OSF) präregistriert (osf.io/jsv9z). Für das Gesamtprojekt wurden Apps in deutscher und englischer Sprache identifiziert und auf Ein- und Ausschlusskriterien geprüft. Im vorliegenden Artikel werden die Ergebnisse für alle Apps in deutscher Sprache berichtet.
Systematische Suche
Die Suche erfolgte für Android-Apps über das Webinterface des deutschen Google Play Store, für iOS Apps über den Apple App Store (iTunes). Folgende Suchbegriffe wurden verwendet: „tinnitus“, „ear ringing“, „ear noise“, „ear buzzing“, „Ohrenklingeln“, „Ohrgeräusch“, „Ohrensausen“. Die Suche fand von November 2020 bis April 2021 statt. Wurde eine App über beide Stores angeboten, so wurde die iOS-Version einbezogen.
Ein- und Ausschlusskriterien
In einem ersten Schritt wurden die identifizierten Apps anhand von Informationen im Store (Titel, Beschreibung, Nutzerkommentare und Bilder) gescreent. Einschlusskriterien waren: a) für Tinnitus entwickelt und b) in deutscher oder englischer Sprache verfügbar. Apps wurden ausgeschlossen, wenn sie eines der folgenden Kriterien erfüllten: I) App-Bundles (Gruppe von Apps, die gebündelt angeboten werden), II) nicht mehr im Store verfügbar, III) Apps mit eingeschränkten Funktionen, Vollversion bereits in die Analyse eingeschlossen. In einem zweiten Schritt wurden die verbleibenden Apps heruntergeladen und erneut auf Einschlusskriterien a) und b) geprüft. Apps wurden ausgeschlossen, wenn sie eines oder mehrere der Ausschlusskriterien I–III oder eines der folgenden Kriterien erfüllten: IV) technisch nicht hinreichend funktionsfähig, V) in Entwicklungs- oder Testphase, VI) bietet ausschließlich E‑Book oder Artikel zu Tinnitus an, VII) dient der Begleitung einer apparativen Therapie, VIII) Erwerb über Store nicht möglich, IX) kein Zugang zur App.
Instrumente
Zur Qualitätsanalyse der Apps wurde die deutsche Version der Mobile App Rating Scale (MARS-German; [
21]) eingesetzt. Im Rahmen der Studie wurden folgende Subskalen erfasst:
-
Engagement (A, 5 Items: Unterhaltung; Interesse; individuelle Anpassbarkeit; Interaktivität; Zielgruppe),
-
Funktionalität (B, 4 Items: Leistung; Usability; Navigation; motorisches, gestisches Design),
-
Ästhetik (C, 3 Items: Layout; Grafik; visueller Anreiz),
-
Information (D, 7 Items: Genauigkeit der App-Beschreibung aus dem App-Store; Ziele; Qualität der Information; Quantität der Informationen; visuelle Informationen; Glaubwürdigkeit; Evidenzbasierung) sowie
-
Psychotherapie (PT, 4 Items: Gewinn für Patienten; Gewinn für Therapeuten; mögliche Risiken, Nebenwirkungen und schädliche Effekte; Übertragbarkeit in die Routineversorgung) und
-
subjektive Qualität (E, 4 Items: Weiterempfehlung; Häufigkeit der Nutzung; Erwerb der App; Gesamtbewertung).
Für die Bewertung der Items wird eine 5‑stufige Skala genutzt (1 – inadäquat; 2 – schlecht; 3 – akzeptabel; 4 – gut; 5 – exzellent). Der Gesamtwert der Skala (Grundlage Subskalen A–D) sowie die Subskalenwerte dienen als Indikatoren für die App-Qualität (Wertebereich 1–5, mit höheren Werten für eine höhere App-Qualität). Allgemeine Charakteristika der Apps wurden über die erste Sektion der MARS‑G (adaptiert, Vergleich Tab.
1) erhoben.
Tab. 1
Allgemeine Charakteristika der Apps
Plattform |
iOS | 16 |
Android | 5 |
Kostena |
Kostenfrei nutzbar | 16 |
„In-App-Käufe“ verfügbar (Range: 1,99–67,99 €/Monat) | 7 |
Kostenpflichtig (0,69 €/3 Monate–17,99 €/Monat) | 5 |
Angliederung |
Unbekannt | 4 |
Gewerblich | 11 |
Regierung | – |
Gemeinnützige Organisation | – |
Universität | – |
Krankenkasse | – |
Klinik | – |
Andere: Privatperson | 3 |
Andere: Stiftung | 3 |
Altersgruppe |
< 18 Jahre | – |
18 Jahre+ | 1 |
USK „ab 0 Jahren“ | 5 |
FSK | – |
Andere: Altersangabe Appleb | 16 |
Kategorien im App-Store |
Lifestyle | – |
Medizin | 14 |
Gesundheit und Fitness | 6 |
Andere: Musik und Audio | 1 |
Technische Aspekte der App |
Austausch mit anderen (z. B. über soziale Medien) | – |
Verfügt über App-Gemeinschaft | – |
Benötigt Internetzugang | 8 |
Einbettung in therapeutische Angebote |
Keine | 18c |
Kommunikation mit Behandlern über App/Webinterface möglich | – |
Zuteilung von Modulen durch Behandler möglich | – |
Teilen von Inhalten (z. B. Nutzerstatistiken) mit Behandler möglich | 1 |
Andere: vornehmlich im Studienkontext nutzbar | 2 |
Einsatzbereich |
Prävention | – |
Behandlung | 20 |
Rehabilitation | – |
Nachsorge | – |
Andere: Tracking der Symptomatik | 1 |
Behandlungsart |
Stand-alone | 21 |
Blended Care (BC) | – |
Nicht anwendbar | – |
Unterstützung |
Guided synchron | – |
Guided asynchron | – |
Technically guided | 2 |
Unguided | 19 |
Zertifizierung |
Keine | 17d |
Entspricht Medizinproduktegesetz | 2 |
Andere: CE-Zertifizierung | 4 |
Sicherheit und Datenschutz |
Erlaubt Passwortnutzung | 5 |
Erfordert Login | 5 |
Verfügt über eine Datenschutzerklärung | 15 |
Barrierefreiheit |
Ja | – |
Nein | 21 |
Zudem wurde von den Autor:innen (AR, DL, CW) ein Katalog von im Tinnitusbereich üblichen Interventionselementen erstellt. Dieser wurde auf Basis von Studien zu Elementen von Interventionen [
26], der S3-Leitlinie Chronischer Tinnitus [
27], der Leitlinie evidenzbasierte Gesundheitsinformation [
28], von Übersichtsarbeiten zu Tinnitus [
29‐
31] und einem Therapiemanual [
32] erstellt. Der Katalog diente als Grundlage, um die App-Inhalte zu katalogisieren. Zudem wurde für jede App bewertet, welche der gefundenen Interventionselemente zentral bedeutsam sind.
Zur Erfassung der eingesetzten BCTs kam die Behavior Change Technique Taxonomy („v1“; [
23]) zum Einsatz. Die Taxonomie umfasst 93 Techniken, die im Rahmen einer Intervention zur Veränderung von Gesundheitsverhalten eingesetzt werden können (z. B. „self-monitoring of behaviour“ oder „action planning“). Diese sind 16 Kategorien (z. B. „feedback and monitoring“ oder „goals and planning“) zugeordnet.
Bewertungstraining
Vor Beginn der Analyse der Apps absolvierten 3 Bewerterinnen ein Training. Dieses umfasste: A) ein Trainingsvideo zur MARS‑G [
21] sowie einen Ausschnitt des Trainingsvideos mit beispielhaftem Rating zur englischen Originalskala [
20]; B) „Practices“ der Online-Plattform zur BCT Taxonomy v1 (alle Bewerterinnen) sowie ein Online-Training (Bewerterin 1;
http://www.bct-taxonomy.com/); die Erstellung und Diskussion von Beispielen zur praktischen Umsetzung der 93 BCTs im Rahmen einer App für Tinnitus und C) eine unabhängige Analyse von 5 Trainings-Apps aus dem Themenfeld Schmerz und Diskussion der Ergebnisse.
Datenerhebung und Analyse
Jede App wurde unabhängig von 2 Bewerterinnen (M. Sc. Psychologie) für 20 min getestet und anschließend bewertet. Getestet wurden jeweils die Vollversionen der Apps. Jede Bewerterin erhielt eine Liste der zu bewertenden Apps mit vorgegebener Reihenfolge. Die Reihenfolge unterschied sich dabei zwischen den Bewerterinnen. Nach Abschluss der Ratings prüfte eine nicht am Projekt beteiligte Person die Ergebnisse der beiden Bewerterinnen zu Items der MARS‑G mit der Antwortoption „not applicable“. Differenzen zwischen den Bewerterinnen dazu, ob Items für die jeweilige App bewertet werden können, wurden diskutiert. Zur Analyse der Übereinstimmung der Bewertungen (Interrater-Reliabilität) für den Gesamtwert der MARS‑G wurde die „Intra-Class-Correlation“ (ICC; „two-way mixed effects, absolute agreement“) berechnet. Fiel die ICC unter 0,75 wurde eine dritte Bewerterin hinzugezogen. Nach Abschluss der Ratings diskutierten beide Bewerterinnen auf Basis der Differenzen die Ergebnisse zu Interventionselementen und BCTs für jede App. Konnte kein Konsens erzielt werden, wurde die dritte Bewerterin einbezogen. Für die Subskalen der MARS‑G sowie den Gesamtwert werden die gemittelten Werte aus beiden Ratings berichtet. Um Evaluationsstudien zu den Apps zu identifizieren, wurden Datenbanken (z. B. Pubmed, PsycInfo) und Systematic Reviews durchsucht und alle Entwickler:innen per E‑Mail kontaktiert. Zur Datenaufbereitung und Analyse wurde die Software IBM SPSS Statistics 28 (IBM Corp., Armonk, NY, USA) [
33] eingesetzt.
Diskussion
Dies ist die erste Studie, die explizit deutschsprachige Tinnitus-Apps hinsichtlich Qualität, eingesetzter Interventionselemente und BCTs untersucht. Insgesamt konnten 21 Apps analysiert werden.
In unserer Studie war die Varianz in der Qualität der Apps, entsprechend der MARS‑G, auffällig. Während die
Funktionalität der Tinnitus-Apps gut bewertet wurde, gibt es hinsichtlich der Qualität der
Informationen sowie des Ausmaßes, in dem die App das
Engagement der Nutzenden fördert, deutliches Verbesserungspotenzial. Dieses Ergebnis deckt sich mit Untersuchungen zu Apps bei Depression oder posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), auch hier wurde die Funktionalität der Apps am höchsten bewertet [
36,
37]. Auch das Gesamtergebnis hinsichtlich der schwankenden Qualität spiegelt die Ergebnisse früherer Arbeiten sowohl zu Tinnitus-Apps [
16] als auch zu Apps aus anderen Themenbereichen [
36‐
39] wider. Die ständig steigende Anzahl von Apps in den Stores bei gleichzeitig schwankender Qualität erschwert es Betroffenen und Behandelnden, eine qualitativ hochwertige App auszuwählen. Eine öffentliche Datenbank, die reliable, valide und standardisierte Expert:innenratings (z. B. anhand der MARS-G) zugänglich macht, könnte zur informierten Entscheidung für eine App bei spezifischen Erkrankungen oder Einsatzbereichen beitragen [
21]. Auf bestehenden Plattformen wie „PsyberGuide“ [
7] oder „Mobile Health App Database (mHAD) Germany“ ist es aktuell jedoch leider nicht möglich, gezielt nach Apps zu suchen, die für Tinnitus entwickelt wurden. Im DiGA-Verzeichnis finden sich bisher (Stand: Juli 2023) lediglich 2 Apps zum Einsatz bei Tinnitus.
Die Auswahl einer geeigneten App wird darüber hinaus durch die meist fehlenden wissenschaftlichen Wirksamkeitsuntersuchungen der Tinnitus-Apps erschwert. Für lediglich eine App lagen Publikationen zur wissenschaftlichen Evaluation vor, wobei es sich dabei um unkontrollierte Studien mit kleinen Stichprobengrößen handelt [
40]. Für eine weitere App wurde eine Evaluation durch ärztliche Behandelnde berichtet, die zur Entwicklung der Symptomatik der Patient:innen nach der App-Nutzung befragt wurden [
41]. In der Zwischenzeit wurde eine weitere Studie zur Evaluation einer App veröffentlicht [
42]. Das Ergebnis unserer Studie, dass es für eine substanzielle Anzahl von Apps keine wissenschaftliche Evidenz gibt, bestätigen ebenfalls frühere Übersichtsarbeiten zu Tinnitus-Apps [
43,
44] sowie zu Apps aus anderen Themenfeldern (z. B. PTBS, Depression, Schlaf, Achtsamkeit; [
36‐
38,
45]).
Im Qualitätsrating wurden einzelne Übungen identifiziert, die bei selbstständiger Durchführung ohne zusätzliche Instruktionen negative Effekte auslösen könnten (z. B. bei unzureichender Anleitung zu einem Hörtraining bei Hyperakusis oder zur Exposition gegenüber dem Tinnitus). Zudem entsprach die Einordnung zur Evidenz des angebotenen Verfahrens teilweise nicht der aktuellen Studienlage. Auch dieses Ergebnis ist konsistent mit früheren Studien, die zeigten, dass Inhalte der Tinnitus-Apps für Betroffene potenziell negative Effekte haben könnten [
13]. Sereda und Kollegen [
8] summierten, dass manche Inhalte von Tinnitus-Apps, wenn sie ohne Begleitung durch geschulte Therapeut:innen eingesetzt werden, nicht für Tinnitusbetroffene geeignet sein könnten (z. B. Übungen zur Identifikation maladaptiver Gedanken). Nach unserem Kenntnisstand untersuchte bisher nur eine Studie negative Effekte bzw. mögliche Risiken einer App-Nutzung. Schlee et al. (2016) summierten, dass die regelmäßige Nutzung einer App zum Tracking der Tinnitussymptomatik keine bedeutsamen negativen Effekte auf die wahrgenommene Lautstärke des Tinnitus oder die Belastung durch das Ohrgeräusch hatte [
46].
Limitationen und Implikationen
Die systematische Suche wurde im April 2021 abgeschlossen. Es ist möglich, dass zwischenzeitlich neue Apps entwickelt wurden, von uns untersuchte Apps nicht mehr im Store verfügbar oder verändert sind. Zudem könnte es sein, dass weitere Apps wissenschaftlich evaluiert worden sind. Die in unserer Studie dargestellten und entwickelten Kriterien bieten jedoch eine gute Grundlage für regelmäßige Updates, durch die die Veränderungen in diesem dynamischen Feld besser abgebildet werden können. Als weitere Limitation ist zu nennen, dass für die Suche ausschließlich die beiden größten App Stores genutzt wurden. Nicht einbezogen wurden weitere Stores (z. B. Microsoft) oder App Libraries (z. B. NHS Apps Library). Die dargestellten Ergebnisse beziehen sich ausschließlich auf Apps in deutscher Sprache und sind nur eingeschränkt generalisierbar. Es kann zudem kein Rückschluss gezogen werden, wie gut die Elemente umgesetzt sind, da lediglich das Vorliegen der Elemente kodiert wurde. Zudem sollte in zukünftigen Untersuchungen evaluiert werden, welche Interventionselemente und BCTs Betroffene wirksam im Tinnitusmanagement unterstützen können.
Aus der multiperspektivischen Analyse ergibt sich insgesamt ein Bild, dass Apps für Tinnitus bislang häufig eher für eine passive Nutzung konzipiert sind, d. h., dass die Nutzenden wenig dazu motiviert werden, selbst aktiv zu werden. So fanden sich bei der Untersuchung mittels MARS niedrige Werte für die Förderung des Engagements der Betroffenen. Des Weiteren wurde als zentrales Interventionselement die Nutzung von Geräuschen identifiziert, bei der sich Betroffene passiv einem Reiz aussetzen. Aktive Strategien zur Änderung von Gesundheitsverhalten werden seltener integriert, wie die Analyse der BCTs deutlich macht. Entsprechend könnte das Potenzial von Apps deutlich besser genutzt werden, indem aktives Tinnitusmanagement inhaltlich breiter in Apps integriert wird (z. B. Übungen zur Aufmerksamkeitslenkung; Übungen zur Exposition gegenüber dem Tinnitus) und dazu bewährte Techniken zur Veränderung dieses Gesundheitsverhaltens digital umgesetzt werden.
Die niedrigen Werte in subjektiver Qualität und Psychotherapie der MARS‑G weisen darauf hin, dass insbesondere die frei verfügbaren Apps nicht klar empfohlen werden können und einzelne Interventionselemente, bei einseitiger Nutzung in Selbsthilfe, sogar negative Effekte erwarten lassen. Entsprechend sollten behandelnde Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen die Nutzung von Tinnitus-Apps bei ihren Patient:innen aktiv erfragen und die Interventionselemente der jeweiligen App professionell einordnen. Die Motivation von Betroffenen zur Nutzung einer App sollte als Ressource verstanden werden. Entsprechend sollten Betroffene ermutigt werden hilfreiche Funktionen der Apps (weiter) zu nutzen, dies als Teil des Tinnitusmanagements zu verstehen und sie gleichzeitig in einen übergreifenden Präventions- oder Behandlungsplan zu integrieren. Voraussetzung dafür sind niederschwellige Informationsquellen für Behandelnde.
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