Das Fallbeispiel wurde bereits in abgeänderter Form in Zahnärztliche Mitteilungen, Ausgabe Nr. 5, 01.03.2022, S. 436–439 veröffentlicht.
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Anamnese und klinische Präsentation
Ein 9‑jähriger Patient stellte sich mit einer bereits durch den Hauszahnarzt angefertigten Panoramaschichtaufnahme (PSA) in unserer Klinik vor (Abb. 1). Die Bildgebung erfolgte bei noch ausstehendem Durchbruch von Zahn 47, wobei die Zähne 17, 27, und 37 bereits durchgebrochen waren. Die PSA zeigte ein Wechselgebiss mit retiniertem und nach kaudal verlagertem Zahn 47 sowie einer ausgedehnten rundlichen Verdichtung mit transluzentem Randbereich im Bereich des rechten Kieferwinkels. Diese Raumforderung wies einen direkten Kontakt mit der Krone des verlagerten Zahns 47 auf und grenzte distal an Zahn 46. Auf der PSA konnte der Canalis mandibularis rechts nicht klar abgegrenzt werden. Der junge Patient berichtete anamnestisch von keinerlei Einschränkungen, Schmerzen oder sonstigen Auffälligkeiten, auch die Familienanamnese zeigte sich unauffällig. Die sich anschließende klinische Untersuchung ergab ebenfalls keine Auffälligkeiten im Bereich des N. alveolaris inferior/N. mentalis rechts. Die intraorale Schleimhaut im Bereich des rechten Kieferwinkels zeigte sich intakt, ohne Hinweise auf eine entzündliche Veränderung. Palpatorisch konnte eine dezente, schmerzlose knöcherne Auftreibung vestibulär Regio 47/48 detektiert werden. Es folgten eine digitale Volumentomographie (Abb. 2) im Rahmen der ergänzenden Diagnostik und im Anschluss die Operationsplanung.
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Chirurgisches Management und klinischer Verlauf
Im Anschluss an die Anamnese, klinische Untersuchung und weiterführende Diagnostik planten wir die Enukleation des Befundes in toto mit Osteotomie des retinierten und verlagerten Zahns 47 in Allgemeinanästhesie. Im Rahmen der Vollnarkose erfolgte zu Beginn eine intraorale Inspektion und Palpation, wobei sich die knöcherne Ausbuchtung im vestibulären Bereich des rechten Kieferwinkels deutlich darstellte. Die Schleimhaut zeigte sich weiterhin regelrecht (Abb. 3a).
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Es folgte die Infiltrationsanästhesie im Bereich des rechten Kieferwinkels und des aufsteigenden Unterkieferastes. Im Anschluss konnte die Schnittführung im Sinne einer marginalen Inzision Regio 85-46 mit Fortführung nach distal-vestibulär und anteriorer Entlastung erfolgen. Der gebildete Mukoperiostlappen wurde nach kaudal präpariert und unter Schutz des N. lingualis rechts mittels Raspatorium konnte die Raumforderung Regio 47 dargestellt werden. Nach Osteotomie einer dünnen Knochenschicht zeigte sich zunächst eine weiche, bindegewebige Hülle (Abb. 3b). Von dieser und dem darunter liegenden Gewebe wurde eine Probe zur intraoperativen histopathologischen Schnellschnittdiagnostik eingesandt. Im Bereich der Osteotomie wurde in einem folgenden Schritt die bindegewebige Hülle entfernt, wobei sich eine darunter liegende, festere Raumforderung demaskierte. Diese konnte im Anschluss in toto enukleiert werden (Abb. 4a,b). Nach erfolgter Enukleation zeigte sich bereits der retinierte und verlagerte Zahn 47, der problemlos mittels Hebel nach Bein gelöst und geborgen werden konnte (Abb. 4c).
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Unter Schonung des durch die Raumforderung nach kaudal verdrängten N. alveolaris inferior konnte die behutsame Kürettage im Bereich der ossären Kavität (Abb. 4d) stattfinden. Bei noch gutem Knochenangebot ließ sich manuell und visuell eine Fraktur im Bereich des rechten Kieferwinkels ausschließen. Nach Augmentation im Bereich der knöchernen Höhle mittels Kollagenflies konnte der plastische Wundverschluss mit resorbierbarer Naht erfolgen. Postoperativ wurde eine PSA angefertigt, die die vollständige Entfernung der Raumforderung und des Zahns 47 sowie keinen Anhalt für eine Fraktur ergab (Abb. 5).
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Histologische Diagnostik
Die erste Schnellschnittdiagnostik ergab ein deutlich zellreiches, spindelzellig imponierendes mesenchymales Gewebe, wobei innerhalb des Präparats einzelne dentogene Zellgruppen mit abgrenzender Palisadenstellung erkennbar waren. Die weitere Untersuchung des ca. 3 × 2,5 cm messenden Hauptpräparats zeigte einen hamartomähnlichen odontogenen Tumor mit vereinzelter Dentinbildung, was schlussendlich zu der finalen Diagnose führte (Abb. 6).
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Wie lautet Ihre Diagnose?
In Zusammenschau des histologischen Ergebnisses und der Bildgebung wurde die Diagnose eines ameloblastischen Fibrodentinoms gestellt.
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Beim ameloblastischen Fibrodentinom (AFD) handelt es sich um einen benignen odontogenen Tumor, der seit den WHO-Klassifikationen odontogener Tumoren von 2017 und 2022 den Odontomen zugeteilt wird [2].
Zuvor (WHO-Klassifikation von 2005) wurde das AFD noch als eigenständige Entität angesehen, mittlerweile dominiert jedoch die Ansicht, dass das AFD eher einen Zwischenschritt im Zuge der Entwicklung eines Odontoms darstellt [2‐4]. Generell wird die genaue Zuordnung des AFD und auch des ameloblastischen Fibroodontoms (AFO) immer wieder diskutiert, da es sich histologisch zwischen den Odontomen und dem ameloblastischen Fibrom (AF) einzuordnen scheint. So weisen einige AFD und AFO eine BRAF-V600E-Mutation auf, die mit dem AF, jedoch nicht den Odontomen übereinstimmt [2, 5].
Das AFD ist ein äußerst seltener odontogenen Tumor, was auch zu einer vergleichbar geringen Anzahl an bisher publizierten Fällen führt. Dabei entfallen ca. 80 % der diagnostizierten Fälle auf die ersten beiden Lebensdekaden der Patienten [4]. Zu einem späteren Zeitpunkt werden nur sporadisch Fälle [4] und im höheren Lebensalter äußerst selten AFD diagnostiziert [6]. Die Geschlechterverteilung wird in der Literatur mit 1,85:1 (männlich : weiblich) angegeben [7].
In der Regel ist das AFD im Bereich des Unterkiefers und hier normalerweise in der Molarenregion (ca. 76 %) lokalisiert und imponiert radiologisch mit klar definierten Grenzen von radioopaken und transluzenten Anteilen [4, 8]. Klinisch ist es dabei, wie auch in diesem Fallbeispiel, oft mit einem retinierten Zahn assoziiert und zeichnet sich i. d. R. durch asymptomatisches, langsames Wachstum aus [4]. Dennoch existieren auch Fallberichte zum AFD und AFO, in denen ein lokal aggressives Wachstumsmuster, die erreichte Größe sowie die Rezidivwahrscheinlichkeit eher einem neoplastischen Typ als einem Odontom bzw. Hamartom entspricht [2].
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnostisch sollte bei gemischt radioopaken und transluzenten Raumforderung im Ober- und Unterkiefer ein kalzifizierender epithelialer odontogener Tumor, ein adenomatoider odontogener Tumor, ein Zementoblastom oder auch eine kalzifizierende odontogene Zyste in Betracht gezogen werden.
Kalzifizierender epithelialer odontogener Tumor
Der kalzifizierende epitheliale odontogene Tumor (CEOT) wurde erstmalig im Jahre 1955 von Pindborg [9] beschrieben und wird daher in der Literatur nicht selten noch als „Pindborg-Tumor“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen benignen Tumor, der zumeist intraossär (94 %) und nur selten extraossär (6 %) auftritt, wobei die intraossäre Variante i. d. R. früher diagnostiziert wird. Die Geschlechterverteilung ist relativ ausgeglichen, jedoch ist der Unterkiefer knapp doppelt so häufig wie der Oberkiefer betroffen. In ca. 60 % der Fälle scheint der CEOT mit einem retinierten Zahn oder einem Odontom assoziiert zu sein und liegt zumeist im Bereich der Prämolaren und Molaren [10]. Gemäß der WHO-Klassifikation von 2022 kann der CEOT in 3 Subtypen unterteilt werden: klarzellig, zystisch/mikrozystisch und nichtkalzifizierend bzw. reich an Langerhans-Zellen. In sehr seltenen Fällen wurde eine maligne Transformation von CEOT mit Ausbildung von Metastasen beschrieben [11], weswegen dieser Tumor als solcher erkannt und folglich konsequent entfernt werden sollte.
Adenomatoider odontogener Tumor
Der adenomatoide odontogene Tumor (AOT) ist ein ebenfalls benigner, langsam wachsender odontogener Tumor, der öfter im Ober- als im Unterkiefer vorkommt (Verhältnis 2,1:1). Der Großteil der AOT wird bei Patienten im Laufe der zweiten Lebensdekade diagnostiziert, wobei das weibliche öfter als das männliche Geschlecht betroffen ist (1,9:1; [12]). Der AOT zeichnet sich durch ein langsames Wachstum aus und kommt in einer intraossären (follikulär und extrafollikulär) sowie einer peripheren Variante vor. Beim peripheren AOT ist das Weichgewebe des zahntragenden Kieferteils betroffen [13, 14]. Da es sich um einen benignen und i. d. R. gut abgekapselten Tumor handelt, wird eine operative Entfernung im Sinne einer Enukleation oder Kürettage empfohlen [12].
Zementoblastom
Das Zementoblastom ist ein seltener, gutartiger odontogener Tumor, der zumeist im Unterkiefer im Molarenbereich vorkommt und zu ca. 50 % Patienten unter dem 20. Lebensjahr betrifft [15, 16]. Im Gegensatz zum AFD ist es meist mit Wurzeln von vitalen, bereits durchgebrochenen Zähnen der 2. Dentition assoziiert, allerdings existieren in der Literatur auch Fälle, die mit impaktierten Zähnen oder Milchzähnen in Verbindung stehen [16‐18]. Röntgenologisch zeigt sich neben der direkten Lagebeziehung zum betroffenen Zahn eine radioopake Raumforderung mit einem transluzenten Randbereich.
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Diagnose: ameloblastisches Fibrodentinom
Die Therapie der Wahl stellt eine vollständige Entfernung des Tumors dar, wobei häufig der betroffene Zahn extrahiert werden muss. Im Anschluss daran sollte eine sorgfältige Kürettage bzw. periphere Ostektomie erfolgen, um das Rezidivrisiko weiter zu reduzieren [19, 20]. In ausgewählten Fällen, bei kleinen, apikal lokalisierten Befunden, kann auch eine Separation des Zementoblastoms von der Wurzel und eine endodontische Behandlung des Zahns zum Erfolg führen [20, 21].
Kalzifizierende odontogene Zyste
Die kalzifizierende odontogene Zyste (KOZ) ist ebenfalls ein seltener, benigner Tumor und kann intra- oder extraossär vorkommen. Die KOZ findet sich größtenteils bei Patienten im Alter von 20 bis 59 Jahren (47,3 %), kann aber auch bei Kindern und Jugendlichen (35,1 %) auftreten. Dabei weist die KOZ eine ausgeglichene Geschlechterverteilung auf und ist nicht selten mit einem impaktierten Zahn assoziiert [22]. Zwar können KOZ beide Kiefer betreffen, kommen allerdings am häufigsten im Bereich der Prämolaren und Molaren des Unterkiefers vor [23]. In der Regel zeigt sich die KOZ unilokulär, klar begrenzt und mit unterschiedlich ausgeprägter Kalzifizierung [24]. Bei großen KOZ kann zu Beginn eine Dekompression oder Marsupialisation mit guten Erfolgsquoten durchgeführt werden, allerdings ist die empfohlene Behandlung die Enukleation mit Kürettage der knöchern begrenzten Höhle [25‐27].
Therapie
Zwar zeichnet sich das AFD durch ein langsames und asymptomatisches Wachstum aus, jedoch existieren auch Fallberichte mit einem lokal aggressiven Wachstumsmuster [2, 28]. Daher sollte therapeutisch bei Verdacht auf ein AFD eine Enukleation bzw. eine vollständige Entfernung erfolgen. Bei einem retinierten und verlagerten Zahn, wie in dem hier vorgestellten Fall, sollte dieser im Rahmen der Enukleation mitentfernt werden.
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Fazit für die Praxis
Bei einseitig ausbleibendem oder verzögertem Zahndurchbruch sollte eine Bildgebung, z. B. eine Panoramaschichtaufnahme, erwogen werden.
In seltenen Fällen sind gutartige dentogene Tumoren ursächlich und können auf diesem Wege frühzeitig diagnostiziert und der entsprechenden Therapie zugeführt werden.
Bei Verdacht auf ein ameloblastisches Fibrodentinom sollte dessen vollständige Entfernung angestrebt werden. Dies gilt auch für die hier aufgeführten seltenen Differenzialdiagnosen.
Bei enger Lagebeziehung zum N. alveolaris inferior kann eine ergänzende 3‑D-Bildgebung präoperativ erfolgen und so die Gefahr einer Nervenschädigung weiter reduzieren.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
J. Wüster, P. Korn, W.D. Schmitt, N. Neckel, M. Heiland und S. Koerdt geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.
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