verfasst von:
PD Dr. med. univ. G. Wierer, T. Pfeiffer, M. Schlumberger, F. Dirisamer, R. Attal, Ch. Becher, J. Frings, M. Hinz, P. Kappel, A. Keshmiri, M. Liebensteiner, M. Nelitz, G. Pagenstert, A. Runer, D. Wagner, F. Zimmermann, P. Schöttle, G. Seitlinger, P. Balcarek
Der „AGA Therapiealgorithmus der Patellainstabilität“ (ATAPI) basiert auf der klinischen Untersuchung, der Bildgebung und dem daraus resultierenden Risikoprofil. Im ersten Schritt wird eine mögliche Flake-Fraktur mittels Bildgebung detektiert. Im zweiten Schritt wird das individuelle Risiko einer Reluxation in Abhängigkeit der vorliegenden anatomischen und epidemiologischen Parameter erfasst. Bei niedrigem Risikoprofil ohne Flake-Fraktur wird primär die konservative Therapie empfohlen. Bei vorhandener Flake-Fraktur wird eine Refixation des Fragments angestrebt. Eine zusätzliche Rekonstruktion des medialen patellofemoralen Ligaments (MPFL) senkt das Reluxationsrisiko deutlich und wird auch als Grundpfeiler der operativen Therapie gesehen. Je nach Risikoprofil werden weitere Zusatzeingriffe in Erwägung gezogen. Somit besteht auch bei Patellaluxation ohne Flake-Fraktur aber hohem Risikoprofil die Indikation zur Operation.
Hinweise
Redaktion
F. Dirisamer, Linz
J. Frings, Hamburg
M. Liebensteiner, Innsbruck
×
QR-Code scannen & Beitrag online lesen
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Der „AGA Therapiealgorithmus der Patellainstabilität“ (ATAPI) basiert auf der klinischen Untersuchung, der Bildgebung und dem daraus resultierenden Risikoprofil (Abb. 1). Nach der Anamnese und klinischen Untersuchung folgt die Röntgenabklärung des Kniegelenks in 3 Ebenen (a.-p., Patella seitlich und tangential). Ergänzend wird eine Magnetresonanztomographie (MRT) zum sicheren Ausschluss eines Knorpel-(Knochen‑)Abscherfragments, eine sog. Flake-Fraktur, empfohlen.
×
Die MRT ermöglicht außerdem die erweiterte Untersuchung anatomischer Risikofaktoren. Dazu zählen u. a. die Trochleadysplasie, die Patella alta und der TT-TG(Tuberositas tibiae zu Trochlea „groove“)-Abstand. Eine weiterführende Bildgebung zur Bestimmung der Beinachse in der Frontalebene (Ganzbeinröntgenaufnahme) und der Transversalebene (Torsions-MRT oder -Computertomographie [CT]) wird in Abhängigkeit von der klinischen Untersuchung empfohlen.
Anzeige
Risikoprofil
Um das individuelle Risikoprofil einer Reluxation zur erfassen, sind neben den anatomischen Risikofaktoren zusätzliche epidemiologische Parameter wie das Patientenalter und eine kontralaterale Instabilität relevant (Tab. 1). Für weitere Faktoren wie Geschlecht, Aktivitätsniveau, generelle Hyperlaxizität oder Body-Mass-Index (BMI) fehlt ein höherer Evidenzgrad [17].
Tab. 1
Risikofaktoren einer Patellareluxation
Alter
Gegenseite
Trochleadysplasie
Patella alta
TT-TG-Abstand
Beinachse/-torsion
TT-TG Tuberositas tibiae zu Trochlea „groove“
Das Risiko einer Reluxation in Abhängigkeit der vorliegenden Risikofaktoren wurde u. a. von Lewallen et al., Balcarek et al., Jaquith und Parikh, Arendt et al., und Hevesi et al. ermittelt (Tab. 2; [1, 2, 16, 19, 22]).
Tab. 2
Reluxationsrisiko in Abhängigkeit der Anzahl an vorliegenden Risikofaktoren
Anzahl der Risikofaktoren
0
1
2
3
< 14 %
10–30 %
30–60 %
> 70 %
Alle Autoren zeigen, dass die Trochleadysplasie (1), junges Patientenalter (2) und/oder offene Wachstumsfugen wesentliche Risikofaktoren zur Einschätzung einer Reluxation sind. Drei der 5 Studien zeigen, dass der Patellahochstand (3) ein relevanter Risikofaktor ist. Die Definition einer Patella alta variiert jedoch (Insall-Salvati > 1,2 und ≥ 1,3; Caton-Deschamps > 1,2 und > 1,45). Hier dienen weitere Messmethoden zur Beurteilung der patellotrochleären Überlappung in der MRT, wobei die Aufnahmetechnik hinsichtlich Kniestellung und Muskelkontraktion einen relevant Einfluss auf die Beurteilung einer Patella alta haben [4, 5].
Jeweils eine weitere Studie zeigt, dass der erhöhte TT-TG-Abstand (4) und eine kontralaterale Instabilität (5) relevante Risikofaktoren einer Reluxation sind.
Anzeige
Der Patellar-Instability-Probability(PIP)-Rechner stellt ein zusätzliches Tool zur Risikoeinschätzung einer Reluxation dar (Abb. 2). Dieser basiert auf den Faktoren Patientenalter, Trochleadysplasie und kontralaterale Instabilität [32].
×
Weitere Faktoren wie das Genu valgum und eine Torsionsfehlstellung wurden als relevante anatomische Risikofaktoren beschrieben, aber in den genannten Studien zur Risikoeinschätzung einer Rezidivluxation bislang nicht ausreichend untersucht. Dennoch werden sie als integraler Bestandteil einer individuellen Therapieplanung (Tab. 1) gesehen [11, 15, 20, 33].
Therapie
Die konservative Therapie wird empfohlen, wenn keine Flake-Fraktur bei niedrigem Risikoprofil vorliegt. Sollte es zu einer Rezidivluxation kommen, wird nach Reevaluation des Risikoprofils die operative Therapie angestrebt.
Rezente Meta- und Netzwerkanalysen berichten neben der Reduktion der Reluxationsrate und Instabilität auch eine statistisch signifikante Verbesserung subjektiver Werte (Kujala-Score) nach operativer Therapie im Vergleich zur konservativen Therapie. Dabei zeigt die Rekonstruktion des medialen patellofemoralen Ligaments (MPFL) signifikant bessere Ergebnisse als die MPFL-Naht und stellt somit den Grundpfeiler der operativen Therapie dar. Weitere Zusatzeingriffe sollten je nach Risikoprofil in Erwägung gezogen werden, um einer Rezidivinstabilität vorzubeugen.
Aufgrund der teils heterogenen Studienlage ist ein positiver Effekt der operativen Therapie bei Erstluxation ohne osteochondrale Läsion auf das mittel- bis langfristige Ergebnis in Abhängigkeit der jeweiligen Therapierisiken noch nicht abschließend geklärt [3, 7, 12, 18, 23, 24, 28, 30, 31].
Das historische Dogma, dass jede Erstluxation konservativ zu behandeln ist, wird durch die Evaluation des individuellen Risikoprofils und einer daraus resultierenden Therapieempfehlung abgelöst.
Das Vorliegen einer Flake-Fraktur stellt die Indikation zur operativen Therapie. Hierbei sollte eine Refixation des Fragments, soweit Größe und Beschaffenheit dies zulassen, angestrebt werden. Sollte eine Refixation nicht mehr möglich sein, kommen Techniken wie die einzeitige Implantation partikulierter autologer Knorpelgewebe („minced cartilage“), autologe matrixinduzierte Chondrogenese (AMIC) oder die autologe Knorpelzelltransplantation (ACT) zur Anwendung.
Die isolierte Therapie der Flake-Fraktur ohne Adressierung des MPFL führt zu einer hohen Reluxationsrate, sodass eine zeitgleiche MPFL-Rekonstruktion bzw. in ausgewählten Fällen eine MPFL-Refixation/-Naht empfohlen wird. Dabei bietet sich die MPFL-Rekonstruktion mittels gestielten Quadrizeps- oder Patellarsehnenstreifen an, um einen Tunnelkonflikt mit dem refixierten Flake an der Patella zu vermeiden. Je nach Risikoprofil werden weitere Zusatzeingriffe in Erwägung gezogen [6, 8‐10, 13, 14, 21, 25‐27, 29].
Anzeige
Fazit für die Praxis
Das individuelle Risiko einer Reluxation wird anhand anatomischer und epidemiologischer Parameter bestimmt.
Bei niedrigem Risikoprofil ohne Flake-Fraktur wird primär die konservative Therapie empfohlen.
Bei hohem Risikoprofil und/oder Flake-Fraktur wird die operative Therapie empfohlen.
Die Rekonstruktion des medialen patellofemoralen Ligaments (MPFL) stellt den Grundpfeiler der operativen Therapie dar.
Weitere Zusatzeingriffe werden je nach Risikoprofil in Erwägung gezogen.
Je nach Größe und Zustand der Flake-Fraktur werden die Refixation, Resektion oder knorpelrekonstruktive Verfahren angestrebt.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
G. Wierer, T. Pfeiffer, M. Schlumberger, F. Dirisamer, R. Attal, C. Becher, J. Frings, M. Hinz, P. Kappel, A. Keshmiri, M. Liebensteiner, M. Nelitz, G. Pagenstert, A. Runer, D. Wagner, F. Zimmermann, P. Schöttle, G. Seitlinger und P. Balcarek geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Mit e.Med Orthopädie & Unfallchirurgie erhalten Sie Zugang zu CME-Fortbildungen der Fachgebiete, den Premium-Inhalten der dazugehörigen Fachzeitschriften, inklusive einer gedruckten Zeitschrift Ihrer Wahl.
PD Dr. med. univ. G. Wierer T. Pfeiffer M. Schlumberger F. Dirisamer R. Attal Ch. Becher J. Frings M. Hinz P. Kappel A. Keshmiri M. Liebensteiner M. Nelitz G. Pagenstert A. Runer D. Wagner F. Zimmermann P. Schöttle G. Seitlinger P. Balcarek
Zur Zementierung einer Knie-TEP wird in Deutschland zu über 98% Knochenzement verwendet, der mit einem Antibiotikum beladen ist. Ob er wirklich besser ist als Zement ohne Antibiotikum, kann laut Registerdaten bezweifelt werden.
In der Notaufnahme wird die Chance, Opfer von häuslicher Gewalt zu identifizieren, von Orthopäden und Orthopädinnen offenbar zu wenig genutzt. Darauf deuten die Ergebnisse einer Fragebogenstudie an der Sahlgrenska-Universität in Schweden hin.
Darüber reden und aus Fehlern lernen, sollte das Motto in der Medizin lauten. Und zwar nicht nur im Sinne der Patientensicherheit. Eine negative Fehlerkultur kann auch die Behandelnden ernsthaft krank machen, warnt Prof. Dr. Reinhard Strametz. Ein Plädoyer und ein Leitfaden für den offenen Umgang mit kritischen Ereignissen in Medizin und Pflege.
Ein Frauenanteil von mindestens einem Drittel im ärztlichen Op.-Team war in einer großen retrospektiven Studie aus Kanada mit einer signifikanten Reduktion der postoperativen Morbidität assoziiert.
Update Orthopädie und Unfallchirurgie
Bestellen Sie unseren Fach-Newsletter und bleiben Sie gut informiert.