Die vorläufigen Ergebnisse aus einer noch laufenden Studie legen Zusammenhänge zwischen einer wochenweisen Krippenbetreuung und deutlich erhöhten Ausprägungen in der Psychopathologie im Erwachsenenalter im Vergleich zu anderen Betreuungsformen (Tageskrippe oder Familie) nahe. Eine frühe wochenweise Betreuung war assoziiert mit der generellen psychischen Belastung, aktuellen somatoformen Beschwerden sowie der Zahl der psychischen Problembereiche, für die sowohl aktuell als auch (retrospektiv) im Lebensverlauf positiv gescreent wurde. Diese Zusammenhänge bestanden unter Kontrolle der soziodemografischen Unterschiede zwischen den Stichproben. Diese vorläufigen Ergebnisse sind grundsätzlich vereinbar mit den bisherigen Befunden zur Assoziation zwischen früher institutionalisierter Erziehung und dem Auftreten emotionaler Schwierigkeiten im Erwachsenenalter (Golm et al.
2020; Kumsta et al.
2017). Für diesen Zusammenhang sind in der Literatur verschiedene mögliche Entwicklungspfade beschrieben worden, wobei u. a. der Dysregulation der hormonellen Stressantwort durch emotionale Deprivation in den ersten Lebensjahren eine wichtige Rolle zukommt (Blaisdell et al.
2019). Diese steht wiederum mit einer erhöhten Stresssensitivität und einem höheren Risiko für psychische Erkrankungen im späteren Lebensalter im Zusammenhang (Murphy et al.
2022). Insbesondere eine Dauer von mehr als sechs Monaten in der Heimbetreuung könnte einen Risikofaktor sowohl für spätere hormonelle Dysregulation als auch das Vorliegen psychischer Erkrankungen darstellen (Kumsta et al.
2017). Die in der vorliegenden Studie befragten Personen hatten durchschnittlich mehr als zwei Jahre in der Wochenkrippe verbracht, was einen tiefgreifenden Einfluss dieser Betreuungsform auf die weitere Entwicklung nahelegt. Darüber hinaus wurde der überwiegende Teil der untersuchten Personen im Laufe des ersten Lebensjahres in die Wochenkrippe aufgenommen, wobei dies als ein kritischer Zeitraum für die Bindungsentwicklung gilt und eine extensive außerfamiliäre Betreuung in dieser Zeit das Risiko von desorganisiertem Bindungsverhalten beim Kind erhöht (Hazen et al.
2015). Die WK wiesen in der vorliegenden Untersuchung erhöhte Ausprägungen in unsicherer und desorganisierter Bindung in den aktuell bedeutsamen Beziehungen auf. Diese Ergebnisse lassen sich im Rahmen des Modells der selbstorganisatorischen Entwicklung (Cicchetti
2016; Doyle und Cicchetti
2017) verstehen: Die Qualität der frühkindlichen Bindung beeinflusst das Gelingen der weiteren sozioemotionalen Entwicklungsschritte im Verlauf der Kindheit (u. a. Aufbau von Freundschaften, Verstehen der sozialen Signale Gleichaltriger) und des jungen Erwachsenenalters (etwa positives Selbstbild in romantischen Beziehungen, Konfliktlösefähigkeit; Doyle und Cicchetti
2017). Sowohl die weitgehend institutionalisierte Betreuung mit (überwiegend) mangelnden Ressourcen für individuelle und emotionale Zuwendung als auch die wiederholten Trennungserfahrungen können bei ehemaligen WK zu einer höheren Wahrscheinlichkeit von unsicheren inneren Arbeitsmodellen von Bindung geführt haben. Dies kann im Sinne des oben beschriebenen Modells (Doyle und Cicchetti
2017) Folgen für die weiteren sozialen Lernerfahrungen dahingehend gehabt haben, dass bestimmte interpersonale Kompetenzen (Vertrauen in Andere, um Hilfe bitten, sich aus schwierigen Beziehungen lösen können) nicht ausreichend erworben werden konnten und korrigierende Beziehungserfahrungen im späteren Lebensalter weniger wahrscheinlich werden. Auch wenn diese Zusammenhänge aufgrund fehlender Längsschnittdaten nicht überprüft werden können, bietet das beschriebene Modell einen Rahmen, um das unsichere Bindungserleben der ehemaligen WK in den aktuellen Beziehungen zu erklären. Die Ergebnisse stehen außerdem im Einklang mit den bisherigen Fallstudien und biografischen Interviews mit ehemaligen WK, die insbesondere Bindungsschwierigkeiten in Form von fehlendem Vertrauen in das Selbst und in Andere beschrieben haben (Beronneau
2020; Liebsch
2023). Ebenso, wie für die Heimerziehung beschrieben (Tottenham
2012), stellt auch der Besuch einer Wochenkrippe einen zwar mutmaßlich einflussreichen, jedoch nicht deterministischen Faktor für die Bindungsentwicklung dar. Es ist vorstellbar, dass der Aufbau einer sicheren Bindung zu mindestens einem Elternteil, einer Krippenerzieherin oder einer anderen Person für einen Teil der WK einen protektiven Faktor hinsichtlich der späteren psychischen Gesundheit darstellte. Hierfür kann die Erhebung von Bindungsrepräsentanzen mithilfe des Adult Attachment Interview aufschlussreich sein; diese ermöglichen einen Rückschluss auf die inneren Arbeitsmodelle von Bindung. Sichere Bindungsrepräsentanzen könnten einen moderierenden Faktor für den Zusammenhang zwischen früherer Wochenkrippenbetreuung und dem späteren Vorliegen psychischer Erkrankungen darstellen.