Einleitung
An der Abgrenzung der Aufgabenbereiche von Gericht einerseits und Sachverständigen andererseits hängt vieles. Gemäß Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut und darf von ihnen daher nicht delegiert werden. Allein den Gerichten obliegt es also, eine für die Verfahrensbeteiligten bindende Entscheidung über den Sachverhalt zu treffen und diesen anschließend rechtlich zu beurteilen. Aufgabe des vom Gericht beauftragten Sachverständigen ist es dagegen, abstrakt gesprochen, dem Gericht (als pars pro toto für den ihn einschaltenden Rechtsanwender) Informationen zu geben, die es zur Feststellung des Sachverhalts benötigt, für deren Ermittlung ihm aber die nötige Expertise fehlt. Diese Informationen können in allgemeinen Erfahrungssätzen, Beobachtungen oder darin bestehen, dass Erstere auf Letztere angewandt und daraus Schlussfolgerungen gezogen werden. Im letzteren Fall kann es so liegen, dass dem Sachverständigen bestimmte Tatsachen vom jeweiligen Rechtspflegeorgan vorgegeben werden und er aus diesen Anknüpfungstatsachen seine Schlussfolgerungen ziehen soll oder dass er erst noch kraft seiner Sachkunde einen bestimmten Befund erheben muss (Befundtatsachen). Stets beschränkt sich seine Aufgabe jedoch darauf, seinem Auftraggeber Tatsachen mitzuteilen, auf deren Grundlage dieser dann in eigener Verantwortung seine tatsächlichen und rechtlichen Konsequenzen zu ziehen hat. Die Grenze der Verantwortungsverteilung zwischen dem jeweiligen Rechtspflegeorgan und dem Sachverständigen verläuft also, im Grundsatz zumindest, entlang der Unterscheidung zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen. Ein Überschreiten dieser kompetenziellen Demarkationslinie kann sogar die Besorgnis der Befangenheit und dementsprechend die Ablehnung des Sachverständigen gemäß § 74 StPO begründen.
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Wie prekär diese Unterscheidung mitunter ist, zeigt sich allerdings bereits daran, dass auch das Recht, je nach Perspektive, als „Tatsache“ behandelt werden kann, nämlich als, in den Worten des Philosophen Searles (
1969), „institutionelle Tatsache“, worunter solche Tatsachen zu verstehen sind, die (im Gegensatz zu den „rohen“ Tatsachen) auf menschlichen Übereinkünften und gesellschaftlicher Anerkennung fußen (Toepel
2002). Praktisch zeigt sich das etwa daran, dass es Gerichten unbenommen ist, Sachverständigengutachten zum ausländischen Recht und sogar zur Existenz inländischen Gewohnheitsrechts einzuholen. Insoweit nehmen deutsche Gerichte dann eine Beobachterposition ein. Im Ausland geltende Rechtssätze oder im Inland praktizierte Bräuche werden schlicht als gegeben hingenommen, nicht aber wiederum selbst bewertet oder interpretiert, während Gerichte inländisches Recht selbstständig auszulegen und dementsprechend als Teilnehmer eines Rechtsanwendungsdiskurses eine eigene Stellung zu beziehen haben – iura novit curia.
In der forensischen Praxis wirft die Unterscheidung namentlich im Rahmen von Begutachtungen der (verminderten) Schuldfähigkeit besondere Schwierigkeiten auf, wie sich an der z. T. verbreiteten tatrichterlichen Praxis zeigt, den jeweils beauftragten Sachverständigen direkt nach dem Vorliegen oder Nichtvorliegen der (verminderten) Schuldunfähigkeit zu fragen.
Bevor diese spezifischen Probleme behandelt werden, sei zunächst ein kurzer Blick auf die generellen Schwierigkeiten der Unterscheidung von Tatsachen- und Rechtsfragen geworfen.
Zur Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen
Dass die Abgrenzung perspektivengebunden (und insofern nicht absolut) ist, wurde bereits an den soeben angesprochenen „institutionellen Tatsachen“ deutlich. Darüber hinaus hängt sie auch von dem mit ihr verbundenen Zweck ab: Wird ihr im Revisionsverfahren die Funktion beigemessen, den Kontrollumfang des Revisionsgerichts (und damit das Ausmaß des von der Revision gewährten Rechtsschutzes) zu definieren, ist sie dort möglicherweise anders zu treffen als hier, wo sie dazu dient, die Aufgaben des Sachverständigen von denen des Tatgerichts abzugrenzen (Neumann
2008). In beiden Konstellationen erscheint es aber weiterführend, sich näher damit zu befassen, was den Vorgang der Rechtsanwendung überhaupt ausmacht (zum Folgenden: Scheuerle
1958; Schünemann
1993). Im klassischen Subsumtionsmodell wird dieser typischerweise in Form eines Urteilssyllogismus rekonstruiert. Dessen Obersatz besteht aus dem Gesetz, während der Untersatz den tatsächlichen Sachverhalt abbildet – die Konklusion schließlich stellt die Entscheidung dar. Damit sie gezogen werden kann, bedarf es eines Mittelbegriffs, der in derselben Bedeutung in Ober- und Untersatz vorkommt. Der Syllogismus sähe dann, an einem Beispiel aufgezeigt, so aus:
Wer einen Menschen tötet, wird bestraft.
X hat einen Menschen getötet.
Also wird X bestraft.
Die Herausforderung besteht dabei selbstverständlich darin, das abstrakte Gesetz und den konkreten Lebenssachverhalt in einer solchen Weise überhaupt zur Deckung zu bringen. Hierfür bedarf es auf der einen Seite einer Konkretisierung, auf der anderen Seite einer Abstraktion. Einerseits müssen die in der Hauptverhandlung eingeführten Beweismittel und der „Inbegriff der Hauptverhandlung“ insgesamt dergestalt versprachlicht werden, dass am Ende ein Untersatz der oben genannten Art steht. Auch und gerade dies bedeutet es, zu
subsumieren, nämlich Lebenskonkreta oder konkrete Gegenstände unter abstrakte Begriffe (der Alltagssprache) zu fassen. Andererseits müssen die abstrakten Gesetzesbegriffe des Obersatzes interpretiert und konkretisiert werden. Hierfür versucht man, sie mittels anderer Begriffe, falls möglich, solange weiterzuexplizieren, bis eine zureichende Gleichheits- oder Ähnlichkeitsrelation zwischen ihnen und dem versprachlichten Sachverhalt entsteht und es bestenfalls trivial ist, dass dieser ihnen unterfällt und daher die Konklusion des oben dargestellten Syllogismus gezogen werden darf. Bei der dort stattfindenden Anwendung des Rechts auf den Sachverhalt findet demnach in logischer Hinsicht keine Subsumtion eines Lebenssachverhalts unter eine Norm statt, sondern eine
Subordination von Begriffen der Alltagsprache unter solche des Rechts (Gröschner
2014; Engisch
1963).
So betrachtet scheint die Unterscheidung von Tat- und Rechtsfragen zunächst klar. Alles, was der Auslegung der im Obersatz stehenden Norm dient, ist ebenso Rechtsfrage wie die Subordination des versprachlichten Lebenssachverhalts unter die qua Konkretisierung entwickelte „Fallnorm“ (Fikentscher
1977). Der Tatfrage sind demgegenüber die Schritte der Versprachlichung der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung zuzuordnen (Rosenberg
1961). Dass die (Re‑)Konstruktion des zu beurteilenden Sachverhalts immer schon unter Berücksichtigung der möglicherweise anwendbaren Rechtsnormen erfolgt (Normirrelevantes wird ignoriert), wie umgekehrt die Wahl der Rechtsnorm vom Sachverhalt abhängt – der Prozess der Rechtsfindung nach dem berühmten Wort Engischs (
1969) also ein stetes Hin- und Herwandern des Blicks erfordert –, steht diesem Ansatz der Unterscheidung nicht entgegen. Denn, dass die Normkonkretisierung mit Blick auf den jeweiligen Sachverhalt und die Sachverhaltserarbeitung mit Blick auf die in Betracht gezogenen Normen erfolgt, ändert nichts daran, dass es dabei einmal um Rechtliches und ein andermal um Tatsächliches geht.
Es zeigt sich nach dem Gesagten allerdings eine andere Schwierigkeit für die Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen: Die vom Gesetz verwendeten und zu seiner Auslegung herangezogenen Begriffe und die, in denen der Sachverhalt versprachlicht ist, unterscheiden sich äußerlich nicht und müssen um der für die Subsumtion (bzw. Subordination) nötigen Gleichheitsbeziehung willen in ihrer Bedeutung konvergieren. Das Verb „töten“ im obigen Syllogismus findet einmal im Obersatz und damit als Rechtsbegriff, ein andermal im Untersatz und damit als alltagssprachlicher Begriff Verwendung, ohne dass man dem Wort selbst unmittelbar ansehen könnte, wann es in dem einen oder dem anderen Sinn benutzt wird. Desgleichen, wenn das Gesetz statt auf Begriffe der Alltagssprache auf solche einer bestimmten Fachsprache verweist. Diese Synonymität war ein Grund, weshalb die Unterscheidung von Tat- und Rechtsfragen teilweise für undurchführbar gehalten wurde. Beispielhaft: Ist der Satz, „ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 Promille, ist niemand mehr imstande, ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr sicher zu führen“, Resultat einer Auslegung des Begriffs der Fahrunsicherheit und damit ein Rechtssatz oder ist damit lediglich ein Erfahrungssatz ausgesprochen und damit eine Beweisregel aufgestellt, wann tatsächlich von absoluter Fahruntüchtigkeit auszugehen ist? Für die hier interessierende Abgrenzung der Aufgaben des Sachverständigen einerseits und des Gerichts andererseits muss auf dieses Problem nicht vertieft eingegangen werden. Denn insoweit reicht es, zu wissen, dass alles, was der Sachverständige mitteilt, der sprachlichen Erfassung des konkret zu beurteilenden Falles dient und sich also auf der Ebene des Untersatzes abspielt. Wenn er dabei irgendwelcher Termini benutzt, die gleichlautend auch als Tatbestandsmerkmale im Gesetz auftauchen, qualifiziert das allein seine Stellungnahme nicht zu einer rechtlichen. Diese Grenze ist erst überschritten, wenn sich aus seinen Ausführungen ergibt, dass er sich die Kompetenz zur Auslegung eines Rechtsbegriffs und seiner verbindlichen Anwendung auf den Einzelfall anmaßt.
Es ist demnach auch nicht kategorisch verboten, bei der an den Sachverständigen zu stellenden Frage einen Begriff zu benutzen, der so auch im Gesetzestatbestand vorkommt, solange nur klar ist, dass dieser den Begriff möglicherweise anders versteht, als das Gesetz ihn verwendet, sodass es in solchen Fällen zu Missverständnissen kommt. Um das oben genannte Beispiel eines Justizsyllogismus noch einmal zu bemühen: Es wäre also nicht per se falsch zu fragen, ob der Stich des X den Y „getötet“ hat, und es wäre nicht per se eine Stellungnahme zu einer Rechtsfrage, wenn der Sachverständige dies mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet (Toepel
2002). Vorausgesetzt stets, dass alle Beteiligten sich darüber einig sind, was sie unter den jeweils verwendeten Termini verstehen, es eine entsprechende Konvention gibt.
Schluss
Die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit hängt zwar, wie die §§ 20, 21 StGB deutlich machen, (auch) von empirischen (in diesem Fall: leiblich-seelischen) Voraussetzungen ab, ihre Zu- oder Aberkennung ist aber letztlich eine normative Frage der lebensweltlichen Zurechnungspraxis, die mit naturwissenschaftlichen Mitteln allein nicht beantwortet werden kann. Rechtliches und Tatsächliches sind miteinander verquickt. Die Erkenntnisweise psychowissenschaftlicher Sachverständiger kann daher als normativ-empirisch begriffen werden (Köhler
1997; Schild
2017, Rn. 34). Als ein Stück praktischer Hermeneutik ist sie unhintergehbar subjektiv. Dies zu reflektieren, könnte aufseiten der Strafjustiz, die für die Auslegung und Anwendung der in den §§ 20, 21 StGB verwendeten Rechtsbegriffe gemäß Art. 92 GG allein verantwortlich ist, zu einem (selbst-)bewussteren Umgang mit psychowissenschaftlichen Gutachten beitragen. An dem Grundproblem des Sachverständigenbeweises, dass das Gericht normativ ein Gutachten überprüfen soll, obwohl ihm hierzu – wie es durch die Hinzuziehung des Sachverständigen konzediert hat – faktisch der Sachverstand fehlt, ändert das freilich nichts. Es kann ohnehin nicht gelöst, sondern nur entschärft werden, prozedural etwa durch eine großzügigere Handhabung von Beweisanträgen, die auf Anhörung eines weiteren Sachverständigen gerichtet sind, v. a. aber durch interdisziplinären Austausch und die Vermittlung forensischer Grundkenntnisse, die in der Juristenausbildung bislang kaum eine Rolle spielen, sowie durch eine Verbesserung der personellen und finanziellen Ausstattung der – trotz des Pakts für den Rechtsstaat – immer noch deutlich überlasteten Strafjustiz. Gerechtigkeit braucht Zeit.
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